Industrielle Entwicklung in Gerthe – Harpen
Paul Hilgenstock
Wenn der Verfasser der nachfolgenden Ausführungen dem ihm mehrfach von der Vereinigung für Heimatkunde vorgetragenen Wunsch, die industrielle Entwicklung im Amte Harpen-Gerthe seit der Jahrhundertwende zu schildern, gefolgt ist, so geschah es, weil er diese 50 Jahre nicht als Außenstehender, sondern als einer der wenigen noch Lebenden, der die Entwicklung dieses kommunalen Verbandes mit dem einzigen in ihm entstandenen und beheimateten industriellen Unternehmen miterlebt hat und zuweilen in bescheidenem Umfange auch mitgestalten konnte.
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Dort, wo sich nordöstlich des Kernes der Stadt Bochum der Hellweg, die alte Handelsstraße, in den Harpener Hellweg und den Castroper Hellweg aufteilt und der erstere in östlicher Richtung über die alte Hansestadt Dortmund nach Unna, Werl, Soest und Paderborn weiterführt, während der andere über Castrop, Recklinghausen, Haltern, Dülmen der alten Handelsstraße nach Münster entspricht, liegt zwischen dieser Straßengabelung der wesentliche Teil der Gebiete der Gemeinden Harpen und Gerthe.
Bei beiden handelt es sich nach den schlüssigen und verdienstvollen Nachweisungen des bekannten Heimatforschers, Pfarrer i. R. Leich, um Siedlungen aus vorchristlicher Zeit. Die jüngsten Funde und Ausgrabungen im Ortsteil Gerthe-Hiltrop gaben dazu den weiteren Beweis.
Die Aufzeichnung der Geschichte hat stets einen doppelten Sinn und Zweck, auch da, wo es sich nicht um Geschichte im engeren Sinne, um Staatsgeschichte oder Geschichte geistiger Bewegungen handelt, sondern um das Dasein kleinerer menschlicher Verbände und Einrichtungen, um die Geschichte industrieller oder wirtschaftlicher Gebilde. Alle Geschichte setzt sich zusammen aus Einzelvorgängen, erfaßbar in Einzelerscheinungen, und nur an ihnen kann der spätere Geschichtsschreiber vom Fach nachprüfen, ob die Linie großer Zusammenhänge, die er aufzeichnet, richtig gezogen ist. Geschichtsschreibung solcher Art ist aber auch ein Akt der Dankbarkeit gegenüber denen, auf deren Leistung wir Heutigen stehen.
In dem Raum, dessen Entwicklung es hier zu schildern gilt, hat die erdverbundene Wirtschaft die Wanderung und Siedlung der Menschen bestimmt und ihm jeweils das Gepräge gegeben. Ursprünglich und bis weit hinein in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war es die Landwirtschaft, die mit ihren vielfachen Erzeugnissen nicht nur den Lebensbedarf der in ihm Lebenden deckte, sondern im Austausch gegen eigene Bedürfnisse oder im Handel die Abgeltung eigener Arbeit und eigenen Schaffens fand.
Die Gemarkungen Harpen-Gerthe lagen in der Bonität ihrer landwirtschaftlichen Güter und Betriebe und damit in den Erträgnissen nach damaliger allgemeiner Beurteilung höher als die vergleichbaren Betriebe des Landkreises Bochum. Aus solchen Gründen galt auch für die beiden Gemeinden die anerkennende Bezeichnung: „Overamt“.
Dort,wo der Castroper Hellweg nach der Landesvermessung die Höhe 135 erreicht, lag noch bis in die ersten Jahre dieses Jahrhunderts hinein in erhabener Ruhe ein großes langgestrecktes, weiträumiges, westfälisches Bauernhaus. Vor diesem Hause stand eine mit ihren Ästen und Zweigen über den Dachfirst hinausragende Linde von seltener Schönheit deren Stamm von zwei erwachsenen Menschen kaum umfaßt werden konnte. Dieser altehrwürdige Lindenbaum, mehr aber noch die Inschriften im Gebälk des Hauses, ließen erkennen, daß letzteres um die Zeit erbaut war, in der unter napoleonischer Herrschaft die Leibeigenschaft aufgehoben worden war, d. h. also in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, in den Jahren 1806 und 1807. Vor dem Haus und neben der Linde befand sich ein Brunnen mit reichverzierter geschnitzter Brunnenhaube; das Ganze eine mögliche freundliche Illustration zum alten Volkslied: „Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum.“ Nicht ganz hundert Jahre hat dieses Idyll bestanden, dann fiel das stattliche Haus einem Großfeuer zum Opfer, und der Brunnen ging zu Bruch, nachdem es „sieben Tage und sieben Nächte geregnet hatte, jeglichen Tag“. Die Linde versank dabei mit ihrem Wurzelwerk und trotz desselben. Das war das Ende der alten Vorspann-Wirtschaft Blome-Lackmann, an der die in beiden Richtungen über den holprigen Hellweg ziehenden Fuhrleute ihren Vorspann lösten und Atzung nahmen. Eine Eisenbahn, die das Gebiet in nennenswerter Entfernung berührt oder eine Straßenbahn, die es durchfahren hätte, gab es nicht. Die Personenbeförderung geschah durch einmalige Post- oder Omnibuswagen. Letztere aber nicht an Tagen, an denen der Fuhrwerkshalter sein Fuhrwerk zu Viehtransport zu benachbarten Viehmärkten benutzte. Diese Verhältnisse muten heute, nach weniger als 50 Jahren, eigenartig an, ihre Schilderung war notwendig, weil die Örtlichkeiten den Kern der alten kleinen Siedlung Gerte, die kirchlich noch zu Harpen und teilweise zu Castrop und Herne gehörte, darstellen.
Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das kleine Dorf Gerthe über die eigenen Grenzen und die Grenzen seiner Nachbarn hinaus durch eine handwerkliche Sonderfertigung bekannt geworden. Es handelte sich um die Herstellung schwerer Hammerstiele (Hälver), wie solche von den Hammerwerken in den Tälern und Nebentälern der Volme und Lenne in den Osemund-Schmieden, den Reckhämmern und den Breitehämmern verwendet wurden, um das Osemund-Eisen weiter zu verarbeiten und daraus Schaufeln, Pfannen, Spaten, Kellen, Schloßteile, Beile, Handhämmer, kurzum die unter der Gesamtbezeichnung der märkischen Kleineisenindustrie bekannt gewordenen Gegenstände herzustellen.
Kommissionäre kauften außerdem diese durch Güte bekannten Hammerstiele auf, um sie nach Luxemburg, Belgien und sogar nach Schweden auszuführen. Diese Hammerstiele mußten aus besonders hoch und schlank gewachsenen Buchenstämmen, wie solche in den Waldungen um Gerte und Bochum keine Seltenheit waren, hergestellt und „fasergerecht“ mit dem Handbeil bearbeitet werden, damit sie bei der Arbeit nicht starr, sondern federnd aufschlugen.
Als dann nicht mehr die Handfertigkeit und die Tüchtigkeit des einzelnen das Werkstück formten, sondern die Maschine den Rhythmus der Arbeit bestimmte und die Buchenbestände geschwunden waren, fand diese eigenartige Fertigung ihr natürliches Ende. Der Chronist hat der Herrichtung solcher „Hälver“ noch mit Interesse zugeschaut.
Das neunzehnte Jahrhundert war in seinem Verlauf und seinem Ende gekennzeichnet durch eine gewaltige und glanzvolle Entwicklung im deutschen und zumal im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau. Kein Industrie-zweig hat im gleichen Zeitraum und in wenig mehr als zwei Menschenaltern so gewaltige technische und wirtschaftliche Umwälzungen und Fortschritte aufzuweisen wie er.
Nachdem im Jahre 1827 durch Friedrich Harkort die ersten Kohlenbahnen erbaut und später die Eisenbahnen und die Schiffahrt in den Kreis der Verbraucher und vor allem der Verteiler eingetreten waren, nachdem im Jahre 1837 zum ersten Male die Mergeldecke durchteuft war, wuchs die Jahresförderung aus der Enge der ersten Millionen Tonnen hinaus und überschritt schon um die Mitte des Jahrhunderts, nachdem der erste mit Steinkohlenkoks betriebene Hochofen seinen Einzug in die deutsche Eisenindustrie gehalten hatte, die Vier-Millionen-Grenze, um am Ende des Jahrhunderts nach besonders kräftigem Aufstieg infolge der deutschen Einigung und der Schutzzollpolitik, die Höhe von 80 Millionen Jahrestonnen zu erreichen. Damit hatte die Kohlenförderung sich allein in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verzwanzigfacht.
Deutlich erkennbar im Zuge der Zeit war auch die Entwicklung des Bergbaus über die Täler der Ruhr und Emscher hinaus nach Norden. Im Jahre 1872 errichteten Fritz Funke sen., Essen, F. W. Waldhausen sen., Essen, Heinrich Grimberg sen., Bochum, und Wilhelm Schürenberg, Essen, eine Gewerkschaft, die sie in freudiger Hoffnung nach dem zurückgewonnenen Reichsland „Lothringen“ nannten. Das Grubenfeld dieser Gewerkschaft umfaßte 6 147 600 qm, es markscheidet nördlich und westlich mit Ver. Constantin der Große, nördlich und östlich mit Erin und Zollern (Gelsenkirchener Bergwerks AG.) und südlich mit Heinrich Gustav, Caroline und Prinz von Preußen (Harpener Bergwerks AG.). Dieses ursprüngliche Grubenfeld „Sadowa“ ist durch Zusammenlegung von fünf alten Geviertfeldern entstanden. Der 1 100 000 qm große nordöstliche Teil der Berechtsame wurde 1901 aus dem Eigentum der Gelsenkirchener Bergwerks AG. erworben.
Noch im Entstehungsjahr der Gewerkschaft, am 2. Juli 1872, wurde mit dem Abteufen des Schachtes I b e i Gerthe begonnen. Die damalige amtliche örtliche Bezeichnung: „b e i Gerthe“ ist beachtlich. Die Niederbringung des Schachtes brachte mancherlei Enttäuschungen; besonders unerwartete starke Wasserzuflüsse waren zu bewältigen. Sorgen bereitete auch die Beschaffung der dazu und der zum ersten Ausbau der Tagesanlagen erforderlichen Geldmittel.
Die Tagesanlagen bestanden zunächst aus dem Schachtgebäude mit einer aus England bezogenen Zwillingsfördermaschine, dem Kesselgebäude mit sechs, später sieben Dampfkesseln und einer Dampfpumpe zur Bewältigung der Zuflüsse.
Der Schacht I hatte inzwischen bei 160 m Tiefe das Steinkohlengebirge erreicht. Bei 205 m wurde die Wettersohle, bei 261 m die Bausohle angesetzt und bei 275 m am 10. Februar 1875 das Abteufen zunächst gestundet, denn die ersten Aufschlußarbeiten entsprachen den gehegten Erwartungen nicht.
Erst nach längeren ergebnislosen Arbeiten trat eine Wendung zum Besseren ein. Trotzdem war aber das Vertrauen zu der Zukunft des Unternehmens so gering, daß selbst Grubenvorstandsmitglieder ihre Beteiligung aufgaben und zurücktraten. Es war in dieser Zeit (1879) nur dem energischen Eingreifen des Grubenvorstandsvorsitzenden Fritz Funke sen., seinen persönlichen und geldlichen Unterstützungen zu verdanken, daß der Betrieb überhaupt fortgeführt werden konnte. Hier bestimmte in verhängnisvoller Zeit ein einzelner, und nur er trug unter Übernahme persönlicher Opfer die Verantwortung, als die Männer um ihn schon verzagten. Der allmählich einsetzende Erfolg hat ihm recht gegeben.
Im Jahre 1876, also vier Jahre nach Beginn des Abteufens des Schachtes I, förderte die Zeche ihren eigenen Bedarf an Kohlen und setzte außerdem kleine Mengen im Landabsatz ab. Ein Eisenbahnanschluß war noch nicht vorhanden. Mit der Fuhre wurden die Kohlen zum Bahnhof Merklinde, der Emschertalbahn, gebracht und dort verladen. Das kostete je 100 Zentner 13,- Mark. Erst 1880, als die Förderung auf 18 381 Tonnen gestiegen war, konnten zum ersten Male die Erzeugnisse der Zeche auf eigener Anschlußbahn verladen werden.
Die Wendung zum Besseren war eingetreten und zeigte sich darin, daß 1889 die erste bescheidene Ausbeute von 60 Mark für den Kux verteilt werden konnte; also 17 Jahre, nachdem das Abteufen des Schachtes I begonnen war. Weil die Gewerkschaft aber die schweren Zeiten, die in der Kohlenindustrie herrschten, selbst zu fühlen bekommen hatte, unterstützte sie von Anfang an alle Bestrebungen nach dem Zusammenschluß; sie trat dem Westfälischen Koks-Syndikat, Bochum, sowie dem Bochumer Kohlen-Verkaufs-Verein und dem Brikett-Verkaufsverein bei; schließlich auch dem Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikat in Essen mit einer anfänglichen Beteiligung von 237 125 Tonnen, die schon sehr bald auf 540 000 Tonnen und nachdem Schacht II abgeteuft und mit Doppelförderung versehen war, auf 660 000 Tonnen einschließlich 23 700 Tonnen Briketts und 205 400 Tonnen Koks erhöht wurde.
Schon in den letzten zehn Jahren des zu Ende gehenden Jahrhunderts zeigte sich eine beachtliche Aufwärtsentwicklung. In der Zeit von 1890 bis 1900 stieg die
Förderung von 220 122 auf 432 575 t pro Jahr
Belegschaft von 864 auf 1 755 Mann
Kokserzeugung von 42 557 auf 124 605 t pro Jahr
So trat das junge jetzt rund 28jährige Unternehmen nach einer von Schicksalsschlägen und Sorgen nicht immer verschonten Jugend, aber berechtigt hoffnungsvoll in das neue Jahrhundert ein.
Um diese Zeit (1900) zählte die
Gemeinde Harpen 4112 Einwohner
Gemeinde Gerthe 2467 Einwohner
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Eines der Kennzeichen der Entwicklung der rheinisch-westfälischen Montanindustrie des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts war der Kampf um die Beteiligungsziffer im Rheinisch Westfälischen Kohlen-Syndikat und damit zusammenhängend die sogenannte Hüttenzechen-Eigenschaft. Das waren letzten Endes Mengenfragen um den Brennstoff Kohle, Koks und Gas.
Im Jahre 1895 war Carl Funke Essen als Nachfolger seines Vaters in den Grubenvorstand des Steinkohlenbergwerks Lothringen eingetreten. Seine Verdienste um den rhein.-westf. Steinkohlenbergbau, insbesondere um den Magerkohlenbergbau, im südwestfälischen Gebiet annähernd nach Gebühr zu schildern, dazu langt nicht nur der hier zur Verfügung stehende Raum, sondern auch die Befähigung des Chronisten nicht. Auf das im Jahre 1912 kurz nach seinem Tode erschienene Buch Carl Funke und seine Werke“, auf dessen Inhalt hier Bezug genommen wurde, sei hingewiesen. Ihm wurde die unbestrittene Feststellung entnommen, daß Carl Funke der erste große, energische und erfolgreiche Kohlenveredler des Westens, und zwar sowohl der Magerkohle als auch der Fettkohle mit ihren Nebenprodukten war. Die ersten zehn Jahre der mitwirkenden Tätigkeit von Carl Funke im Grubenvorstand der Gewerkschaft Lothringen sind durch die nachfolgenden wenigen Zahlen gekennzeichnet.
In der Zeit von 1900 bis 1910 stieg die
Förderung von 432 575 auf 705 860 t pro Jahr
Kokserzeugung von 124 605 auf 263 155 t pro Jahr
Belegschaft auf 2 500 Mann
Solche Steigerung der Erzeugnisse nach Menge und Güte war natürlich nicht möglich ohne gleichlaufende und nachhaltige Umstellung der Betriebe und Betriebseinrichtungen an den fortgeschrittenen und fortschreitenden Stand der Technik und Wirtschaft, gleichzeitig auch mit der Förderung der Belange der Arbeiterschaft: soziale Einrichtung, Wohlfahrt u. a. m.
Zu allen Zeiten galt die Steigerung der Förderung, die Aufbereitung der Kohle und ihre Pflege als das Primäre, als das Vorgeordnete und die Grundlage des Gesamtbetriebes. Diesem Ziel galt auch die Niederbringung des Schachtes III und der Ausbau dieser Anlage in den Jahren 1901 und 1902 und – um das schon zeitlich etwas vorweg zu nehmen – der im Jahre 1912 erfolgte Erwerb der Mehrheit der Gewerkschaft Freie Vogel und Unverhofft und der Bergbau AG. Mark. Diese erstere brachte allein in Koks eine Erhöhung der Beteiligungsziffern um 360 000 t, die Letztere neben 150 000 t Kohlen noch 54 000 t Briketts.
Der Ausbau der elektrischen Zentrale führte zu einer wesentlichen Vereinfachung und Verbesserung der gesamten Kraftwirtschaft und zum Abschluß eines Stromlieferungsvertrages mit den Vereinigten Elektrizitätswerken Westfalen.
Bis zum Jahre 1900 war die Umwandlung der Kohlen in Koks auf der Schachtanlage I/II ausschließlich in sogenannten Flammöfen, d. h. ohne Gewinnung der wertvollen Nebenprodukte erfolgt. In diesem Jahre erfolgte die Inbetriebnahme einer Gruppe von 60 Ofenkammern mit den Einrichtungen zur Gewinnung von Teer, Ammoniak und Benzol.
Bis zum Jahre 1912 war die Zahl der Koksöfen auf 312 gestiegen und die aus denselben jeweils zur Verfügung stehenden Gasmengen gestatteten den Abschluß von Lieferungsverträgen mit den Städten Herne, Witten, Wetter, Hagen sowie mit den VEW hinsichtlich der Versorgung von Langendreer.
Lothringen gehört zu den Zechen, die zeitlich als eine der ersten derartige Verträge abgeschlossen hat. Das war neben der Stromlieferung die Lieferung von Kohle in der obengenannten und hygienisch einwandfreieren mit Frachten nicht belasteten Form, ab Zeche frei Verwendungsstelle des Verbrauchers. Die Kokereigasversorgung hat eine bei ihrer Aufnahme nicht geahnte Entwicklung genommen, sie war segensreich und nützlich, nicht nur für den Einzelhaushalt und das Kleingewerbe, sondern auch für die industriellen Betriebe jeder Art. Wer hätte damals geglaubt, daß die in der Ruhrgas AG. zusammengefaßte Gemeinschaft der Kokereigaserzeuger den Jah-resumsatz von 3 Milliarden Kubikmeter erreichen und überschreiten würde?
Am 1. Juli 1910 wurde der erste Spatenstich zu der Niederbringung des Schachtes IV im Ortsteil Hiltrop getan und schon am 1. Oktober 1911 konnte dieser Schacht in Förderung genommen werden, die dann ebenfalls inner-halb Jahresfrist auf eine Tagesleistung von 1500 t gebracht wurde. In der Folgezeit entwickelte sich die Schachtanlage IV zu einer der modernsten Anlagen des Reviers. Das Kraftwerk wurde mit einer – zu damaliger Zeit ungewöhnlichen – Dampfspannung von 28 Atmosphären betrieben. Eingefügt in die Gesamt-Kraft- und Wärmewirtschaft war die erste Gruppe der Zentralkokerei als Beginn der Zusammenfassung der bis dahin bestehenden Einzelanlagen.
Um diese Zeit (19t0) zählte die
Gemeinde Harpen 5 158 Einwohner
Gemeinde Gerthe 8 492 Einwohner
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Das Jahr 1912 zeigte zu seinem Beginn die Kennzeichen und Merkmale der fortschreitenden Entwicklung des Unternehmens in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Das Schicksal hatte es anders bestimmt.
Am 15. April 1912 durcheilte das rheinisch-westfälische Industriegebiet die Nachricht von dem plötzlichen Hinscheiden des Geheimrates Carl Funke an den Folgen einer Operation, der er sich in Bad Ems hatte unterziehen müssen. Das ganze Revier, besonders aber der Bergbau und innerhalb desselben „seine Werke“ trauerten um einen ihrer Besten, um einen Unternehmer mit hervorragenden und ausgezeichneten menschlichen Eigenschaften. Lothringen und mit dem Unternehmen auch das Amt Harpen-Gerthe, dem stets seine Fürsorge und sein besonderes Interesse gegolten hatten, betrauerten den Freund. Er hatte in der verhältnismäßig kurzen Zeit seines bestimmenden und mitwirkenden Schaffens im Grubenvorstand dem Unternehmen die Bedeutung geschaffen, die es uneingeschränkt im ganzen Revier besonders auch wegen des stets an den Tag gelegten sozialen Verständnisses als Voraussetzung der Lösung der Frage des Arbeitsfriedens und des gemeinsamen Schaffens genossen hat. Die Betriebsanlagen und die Wohlfahrtseinrichtungen waren gekennzeichnet durch musterhafte Ordnung und Sauberkeit.
Aber nur sehr kurze Zeit, nach dem der Protektor des Unternehmens die Augen geschlossen hatte, wurde dasselbe von einer Katastrophe heimgesucht, deren Umfang über die schlimmsten gleichartigen Heimsuchungen hinausging.
Am 9. August wurde die Gewerkschaft „Lothringen“ von einer Schlagwetter-Explosion betroffen, der 112 Bergknappen zum Opfer fielen.
Tiefe Trauer erfüllte nicht nur das Amt Harpen-Gerthe, sondern das ganze westfälische Land. Der deutsche Kaiser, der zur 100-Jahr-Feier des Bestehens der Krupp-Werke in Essen weilte, ordnete dem Volksempfinden entsprechend den sofortigen Abbruch der Veranstaltungen an und begab sich mit seinem Gefolge in der Begleitung des zuständigen Landrats Gerstein zum Unglücksschacht nach Gerthe, um dort den Hinterbliebenen, den Angehörigen, der Verwaltung des Werkes und allen Betroffenen sein und des gesamten deutschen Volkes Beileid auszusprechen. Der Linderung der Not galten seine anschließenden Verfügungen und Anweisungen. Die Bevölkerung anerkannte die Teilnahme des Kaisers und sein tiefes Mitempfinden und seine Fürsorge durch musterhafte Ordnung und Haltung.
Auf dem Friedhof in Gerthe sind die Opfer der Katastrophe in einem gemeinsamen Grab beigesetzt worden. Ein Denkmal von ergreifender Schönheit und Schlichtheit schmückt dasselbe.
Es wurde schon darauf hingewiesen, daß Geheimrat Funke im rheinisch-westfälischen Industrie-Revier als der Veredler der Kohle galt. Nach dem damaligen Stand der Technik und Wirtschaft galten die diesbezüglichen Bestrebungen der Veredelung der Kohle durch deren Aufbereitung als Brennstoff. Die Gewinnung der wertvollen Nebenprodukte durch die Verkokung der anfallenden Feinkohlen war auf der ganzen Linie als besonders gewinnbringend erkannt worden. Der nächste Schritt unter der Führung Funkes war die Verfeinerung der gewonnenen Erzeugnisse, insbesondere des gewonnenen Rohteers und der Rohbenzole. Diese und andere Maßnahmen waren die ersten Ansätze zu der Erkenntnis, daß die Kohle in der Zukunft nicht mehr ausschließlich Brennstoff, sondern im steigenden Maße Rohstoff sein würde.
Im Sommer des Jahres 1903 erschien in einer süddeutschen Tageszeitung, dem „Schwäbischen Merkur“ aus der Feder des bekannten Wissenschaftlers Geheimrat Wilhelm Ostwald unter dem Titel „Stickstoff eine Lebensfrage“, eine Abhandlung von ganz besonderer Bedeutung. Ostwald sagte in seiner umfangreichen Abhandlung u. a. folgendes:
„ . . . Neben der Landwirtschaft hat aber an den chilenischen Salpeterlagern noch eine andere Instanz ein Lebensinteresse: die Heeresverwaltung. Ohne Salpeter ist heute das beste Heer nahezu wehrlos, denn alles Schießpulver, vom ehrwürdigen Schwarzpulver bis zu dem modernsten rauchlosen Material, wird direkt oder indirekt aus Salpeter hergestellt und kann auf anderem Wege nicht gewonnen werden. Wenn heute ein Krieg zwischen zwei großen Mächten ausbräche, von denen eine in der Lage wäre, die Ausfuhr des Salpeters aus den wenigen Häfen Chiles zu verhindern, so würde sie ihren Gegner dadurch kampfunfähig machen könne, daß sie den Krieg solange fortsetzte, bis dieser seine Munition verbraucht hat.
Wenn auch zur Zeit dieser Umstand für Deutschland nicht sehr bedrohlich ist, da vermöge der Bedürfnisse der Landwirtschaft und der chemischen Industrie die Vorräte an Salpeter im Lande so groß sind, daß auch erhebliche kriegerische Anforderungen aus ihnen gedeckt werden könnten, so wird sich dies Verhältnis doch verschieben, wenn die chilenischen Lager sich der Erschöpfung nähern Die Landwirtschaft ist nicht auf die Anwendung des
Salpeters für ihre Zwecke beschränkt sie kann auch andere Formen gebundenen Stickstoffes insbesondere Ammoniak benutzen, und daß solche Verbindungen noch in sehr großem Maße zugänglich sind, soll alsbald gezeigt werden. Aber für Schieß- und Sprengstoffe ist der Salpeter bzw. die Salpetersäure als Ausgangsstoff unentbehrlich, und da außer den chilenischen Lägern kein irgendwie erhebliches Vorkommen des Salpeters bekannt ist, so liegt hier allerdings ein Problem vor, dessen baldige Lösung notwendig ist.
Die unmittelbarste Lösung des Problems wäre, den freien Stickstoff der Luft in gebundenen überzuführen. Daß dies möglich ist, hat bereits vor Über 100 Jahren Cavendish gezeigt, der durch den elektrischen Funken Salpetersäure aus atmosphärischer Luft gewann. Aber bis auf den heutigen Tag hat sich dieses Experiment trotz- der ins - Ungeheure gesteigerten Hilfsmittel der Elektrotechnik nicht in industriell brauchbare Gestalt bringen lassen. Die Ausbeute von gebundenem Stickstoff steht noch in zu ungünstigem Verhältnis zu dem Aufwande an elektrischer Energie, und auch die am Niagara für derartige Zwecke errichtete Fabrik ist zur Zeit stillgelegt. Daß auf diesem Wege das Problem über kurz oder lang gelöst werden wird, läßt sich nicht voraussagen. . .
Läßt sich demnach die landwirtschaftliche Seite der Stickstofffrage mit einiger Beruhigung ansehen, da sie, wenn auch nicht gelöst, so doch auf dem Wege zur Lösung ist, so bleiben doch noch Zweifel bezüglich der militärischen Seite übrig. Der Landwirtschaft ist es nicht sehr wichtig, ob sie den Stickstoff als Ammoniak oder als Salpeter bekommt; beide Formen sind annähernd gleichwertig und verlangen nur etwas verschiedene Anwen-
dungsweisen. Aber mit Ammoniak kann man kein Schießpulver machen, dazu ist Salpeter oder irgendeine andere Verbindung der Salpetersäure erforderlich. Um also den Kreis der Möglichkeiten auf der vorhandenen
Grundlage zu schließen, ist noch die Frage zu erörtern, ob man aus Ammoniak Salpetersäure machen kann.“
Ostwalds Ausführungen waren überzeugend, und wenn auch die von ihm angedeutete politische Gefahr, die in der möglichen Verhinderung der Salpeterausfuhr aus Chile für Deutschland lag, für die Gewerkschaft des
Steinkohlenbergwerks „Lothringen“ nicht das Entscheidende war, sondern mehr an die Herstellung eines wesentlichen Rohstoffes für die Herstellung schlagwettersicherer Sprengstoffe für den Bergbau gedacht wurde,
so waren doch die Voraussagen Ostwalds so Überzeugend und die von ihm vorgeschlagene Erzeugung von Salpetersäure und salpetersäuren Salzen so sehr in der Richtung stets angestrebter Verfeinerung des Kohle-Nebenproduktes Ammoniak, daß Geheimrat Funke über „Lothringen“ Verhandlungen mit Ostwald aufnehmen ließ. Dieselben führten schon bald zum Abschluß eines Vertrages, durch den Lothringen sich verpflichtete,
das von Ostwald vorgeschlagene Verfahren zu übernehmen und es großfabrikatorisch zu entwickeln. Das war er erste Vorstoß der Kohle in das Gebiet der Chemie.
Die damalige kleine Gewerkschaft des Steinkohlenbergwerks „Lothringen“ hat ihn, allen andern voran,gewagt. Das ist um so beachtlicher, als ein bedeutendes Unternehmen der chemischen Großindustrie das gleiche An-erbieten Ostwalds abgelehnt und das angemeldete Patent bekämpft und zu Fall gebracht hatte, weil hundert Jahre vordem ein elsässischer Wissenschaftler auf ähnliches Verhalten der beteiligten Stoffe hingewiesen hatte, ohne allerdings praktische und nützliche Anwendung daraus zu ziehen.
Da das angestrebte Patent aus solchen Gründen versagt wurde, mußte „Lothringen“ die Ostwaldschen Anregungen als Geheimverfahren weiter behandeln und entwickeln. Dieser Weg war steil und steinig. Vier volle Jahre waren bis zur technischen und wirtschaftlichen Vollendung notwendig.
Hatten sich bis dahin Gewerbe und Industrie in ihrer Vielfalt durch Jahrtausende hindurch in mehr oder weniger primitiver oder vollendeter Form zur Gewinnung und Gestaltung des Stoffes des Feuers bedient und erst in den letzten Jahrhunderten gelernt, die bindenden und lösenden Kräfte der Materie zu deren Umwandlung wirtschaftlich im großen zu verwenden und noch später die elektrische Energie und das Gas dieser Aufgabe dienstbar zu machen, so war nunmehr auch an dieser Stelle das Tor aufgestoßen, das noch fünfzig Jahre zuvor die Wissenschaft als den ewig verschlossenen Zugang zum Unteilbaren, zum Atom, betrachtete. Wir ahnen die außerordentlichen Möglichkeiten des Fortschritts auf diesem Wege.
Die katalytische Oxydation des Ammoniaks, d. i. die Umwandlung der Stickstoff-Wasserstoffverbindung in eine Stickstoff-Sauerstoffverbindung, ist zwar nur ein Teil der gesamten Stoffgestaltung jener Zeit, aber sie ist doch jedenfalls in ihrer Bedeutung durch die seitherige Entwicklung vom Versuch bis zu Großbetrieben in der ganzen Welt bestätigt worden. Solche Vorgänge können nicht unmittelbar mit politischen oder kulturellen verglichen, sie können aber auch in ihrer Bedeutung darum nicht geringer geachtet werden. Als im August 1914 der erste Weltkrieg ausbrach und den dafür zuständigen Stellen die Verantwortung für die Sicherstellung der Kriegsrohstoffe sich aufdrängte, zeigte sich als bedenklichste und größte Schwierigkeit die Eindeckung des Salpeterbedarfs für die Pulver-Sprengstoff- und Munitionsfabriken. Die einzige inländische Quelle für Salpeter-säure und Salpeter war die seit 1908 betriebene Fabrikanlage der Gewerkschaft des Steinkohlenbergwerks „Lothringen“. Über die damals einsetzenden Verhandlungen des preußischen Kriegsministeriums mit „Loth-ringen“ gibt eine umfassende Denkschrift des Chronisten mit wichtigen Belegen Aufschluß. An dieser Stelle genügt es, im Rahmen des gestellten Themas darauf hinzuweisen, daß zwischen dem Kriegsministerium und „Lothringen“ ein umfangreiches Vertragswerk zustande kam, das nacheinander die Errichtung und den Betrieb mehrerer, später unter der Bezeichnung „Chemische Werke Lothringen“ bekanntgewordener Fabrikanlagen unter Beteiligung des Reiches, zum Inhalt hatte.
Die erste dieser Anlagen wurde in fünf Wintermonaten erbaut; sie leistete ab 1. Mai 1915 monatlich 5000 Tonnen Kunstsalpeter und noch 7500 Tonnen Ammonsalpeter und 12 000 Tonnen Salpetersäure. Sie beschäf-tigte im Aufbau und Betrieb 4500 Arbeiter und Beamte; aber zu keiner Zeit einen einzigen Kriegsgefangenen.
Lothringen hat zu damaliger Zeit gegen anfänglich ganz erhebliche Widerstände der deutschen chemischen Großindustrie den Weg gewiesen, der in dieser neuen Fertigung zu sicherem Erfolg geführt hat. Die später in gemeinfaßlichen Abhandlungen, in Tages- und sogar in Fachzeitschriften, zuweilen von der chemischen Großindustrie unterstützte Auffassung, nach der die letztere es gewesen sei, die die Pionierarbeit in dieser bedeutungsvollen Fabrikation geleistet habe, ist unzutreffend.
Nach Kriegsende haben die „Chemischen Werke Lothringen“ ihre Betriebe unverzüglich auf Friedenserzeugnisse umgestellt. Sie haben die stickstoffhungrigen Ackerböden wieder versorgen helfen und dem heimischen Bergbau an Stelle der nicht einwandfreien Chlorat-Sprengstoffe den Einsatz bewährter Sprengstoffe ermöglicht.
Die I.G.-Farbenindustrie hat in der Folgezeit mit ihrem überwiegenden Einfluß in der gesamten Stickstoffindustrie das Unternehmen nach und nach unter ihren Einfluß gebracht und die Werkanlagen dann im Jahre 1931 in der Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs stillgelegt.
Um diese Zeit (1915 – 1920) zählte die
Gemeinde Harpen 5 708 Einwohner
„ Gerthe 14 390 „
Mit dem Weltkrieg 1914/18 ging eine bedeutsame Zeitspanne des Zeitalters der Weltwirtschaft zu Ende. Das System, auf dem diese Wirtschaft aufgebaut war, und die Grundsätze, die in ihr Gültigkeit hatten, waren eine der Voraussetzungen für diese Entwicklung gewesen.
Der Aufstieg der Gewerkschaft des Steinkohlenbergwerks „Lothringen“ war in engem Raum vor sich gegangen. Zwar bildeten die Kohle und ihre Veredelung durch Aufbereitung nach wie vor die Grundlage und den Kern des Unternehmens, aber der Name „Lothringen“ war im Zusammenhang mit der gelungenen und bedeutsam gewordenen Lösung eines Problems der Stickstoffwirtschaft über die Grenzen Deutschlands in die ganze Welt gedrungen.
Im engen Raum hatte die Gewerkschaft Lothringen durch Bereitstellung eines bedeutenden Teiles der Kohlenförderung, der Erzeugung an elektrischer Energie und Gas dem sich ständig steigernden Bedarf der chemischen Werke folgen müssen. Dadurch und weil außerdem eine Sicherung und Ausdehnung des Gesamtabsatzes nach der Seite der eisenschaffenden und eisenverarbeitenden Industrie durch Anlehnung an diese zu suchen für richtig befunden wurde, erwies sich die bisherige Rechtsform der Gesellschaft, die alte 1000teilige Gewerkschaft, mit dem auf den Inhaber lautenden Kux in der Umgebung der dem vertikalen Aufbau und Ausbau zustrebenden Gesamtindustrie als zu eng.
Dahingegen bot die Aktiengesellschaft der Industrie und Wirtschaft die Möglichkeit, größere Kapitalien zur Verfügung zu stellen, ohne sie gleichermaßen mit festen Lasten zu beschweren.
Gleichzeitig öffnete sie aber den Weg zur Entpersönlichung des Unternehmens, dessen Eigentümer sich in eine, möglichem raschem Wechsel zugängliche Vielheit von Personen entwickeln kann, deren Interesse an dem Unternehmen zudem noch ein ausschließlich oder überwiegend finanzielles zu sein vermag. Am 16. Oktober 1920 wurde in einer zu diesem Zweck einberufenen Gewerkenversammlung die Umwandlung der Ge-werkschaft des Steinkohlenbergwerks „Lothringen“ in die „Bergbau-Aktiengesellschaft Lothringen“ be-schlossen.
48 Jahre – fast ein halbes Jahrhundert – waren seit der Gründung des Unternehmens vergangen. Jahre, vom Glück begünstigt, vom Unglück nicht verschont. Glück und Unglück sind Ereignisse, die von außen in die Lebensbahn eines Menschen, eines Volkes, oder in den Gang eines Unternehmens eingreifen. Vom Glück kann aber nur die Rede sein,wenn es erfaßt wird, und vom Unglück, wenn die Widrigkeiten nicht überwunden werden. Krisenbedingte Rückschläge, die immer mit einer Minderung oder Unterbrechung der Ertragsfähigkeit in der Volks- und Weltwirtschaft stehender Unternehmen verbunden sind, hat es zu allen Zeiten gegeben. Eines der Schicksale des Menschen und seiner Unternehmungen ist die Zeit, in die hinein sie geboren wurden. So, rückblickend betrachtet, kann gesagt werden, daß das Unternehmen, um das es sich vorliegend handelt, und die Gemeinschaft, in die hinein es zwischen den beiden Frieden von Versailles von 1871 und 1918 vom Schicksal gestellt wurde, trotz allem vom Glück begünstigt waren. Das Gründungsjahr der „Bergbau-Aktiengesellschaft Lothringen“ lag aber schon in den ersten Schatten der Störung der deutschen Währung und Wirtschaft. Mit der Besetzung des Ruhrreviers und dem anschließenden passiven Widerstand kam es zu einem völligen Verfall derselben.
Die dem deutschen Reich und der deutschen Industrie und Wirtschaft im Anschluß und nach Beseitigung der Inflation zur Verfügung gestellten Auslands-Anleihen brachten zwar ein neues Wiederaufleben von Industrie, Handel und Gewerbe, aber gar zu bald erwies sich, daß es sich um eine Scheinblüte in allen Teilen handelte. „Mechanisierung“ und „Rationierung“ waren, zumal im Bergbau, im Zusammenhang mit erkannten und ver-kannten Wechselbeziehungen zwischen Lohn und Leistung zu innerpolitischen und wirtschaftspolitischen Schlagworten geworden. Trotz aller Bemühungen zur Überwindung der sich immer weiter entwickelnden Krise stieg die Zahl der Arbeitslosen von Monat zu Monat,bis sie 1932 die Höhe von 6 Millionen überschritten hatte.
Aus diesen und anderen Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, sah sich die Bergbau-Aktiengesellschaft „Lothringen“ im Jahre 1931 zu der einschneidenden Maßnahme einer Sanierung gezwungen, deren Ergebnis im wesentlichen die Abwendung von der bei anderen industriellen Unternehmungen als unbefriedigend erkannten Lösung des vertikalen Aufbaues und der Wiederzuwendung zur horizontalen oder gar zur einheitlichen Zusammenfassung war.
Die Jahre nach der Staatsumwälzung 1918 bis zu deren Wiederholung im Jahre 1933 waren politisch, sozialpolitisch und dadurch bedingt auch wirtschaftspolitisch, außerordentlich turbulent und angefüllt mit vielfältigen Meinungen und Problemen.
Trotzdem zeigt die industrielle Entwicklung in diesem Zeitraum und im Raume Harpen-Gerthe weiterhin aufwärts, wie aus der nachfolgenden Zusammenstellung nur einiger, weniger Zahlen ersichtlich.
Um diese Zeit (1930 – 1940) betrug die
Förderung Lothringen 1 898 650 t/Jahr
Kokserzeugung „ 798 579 t/Jahr
Belegschaft „ 6 865 Mann
Es zählte die Gemeinde Harpen 5 738 Einwohner
Gerthe 15 463 „
Die Gemeinde Harpen, die einer der bedeutendsten Bergwerksgesellschaften den Namen gegeben, selbst aber in ihrem Gebiet niemals eine nennenswerte Förder- oder Betriebsanlage aufzuweisen hatte, scheint nach Ent-wicklung und gegenwärtigem Stand der Einwohnerzahl den Höhepunkt erreicht zu haben.
Die Gemeinde Gerthe zeigt dagegen eine weitere starke Aufwärtsentwicklung der Zahl ihrer Bewohner. Es ist beachtlich, daß dieselbe sich seit dem Jahre 1910 verdoppelt und seit dem Jahre 1900 versechsfacht hat. Das ist um so beachtlicher, wenn berücksichtigt wird, daß infolge der Eingemeindungen und Umgemeindungen im Jahre 1929 etwa 2000 Einwohner an das Stadtgebiet Herne übergingen. Zu einer Zeit, zu der im Gesamtgebiet der Stadt Bochum 50 000 Lohn- und Gehaltsempfänger gezählt wurden, betrug diese Zahl in Gerthe-Harpen 12 000. Der Bergbau hat sich zwar trotz großer Abhängigkeit von der Eisenindustrie immer krisenfester als die
letztere erwiesen, aber diese Zahlen, so erfreulich sie an sich sind, drängen andererseits den verantwortlichen Stellen eine Reihe bedeutsamer Fragen hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung auf. Der Bergbau wandert mit
seinem Schwergewicht augenfällig seit der Jahrhundertwende nach Norden. Die Kleinzechen im Tale der Ruhr und südlich desselben haben ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. „Lothringen“ hat inzwischen ein Alter
von 80 Jahren erreicht. Unter Voraussetzung der Beibehaltung der gegenwärtigen Förderung und nach dem gegenwärtigen Stand der Technik wird die sichtbare Substanz noch Jahrzehnte ausreichen. Ähnliches trifft zu für
die markscheidende „Gewerkschaft vereinigte Constantin der Große“, die über ihre Betriebsanlagen im Ortsteil Hiltrop mit der Entwicklung der Verhältnisse im Raume Harpen-Gerthe verbunden ist. Die zu allen Zeiten
unter den Beteiligten gepflegten freundschaftlichen Beziehungen werden auch in Zukunft in wohlverstandenen gegenseitigen und gemeinsamen Interessen von Bestand sein und bleiben.
Wichtig für die Entwicklung industrieller Gemeinden ist das Verhältnis der einzelnen Berufsstände zueinander, also die zahlenmäßige Gegenüberstellung des Anteils der Arbeiter, Gewerbetreibenden, Handwerker usw. zueinander. Da amtliche Unterlagen hierzu nicht zur Verfügung standen, tritt an deren Stelle die Schätzung. Weil das industrielle Unternehmen von der Errichtung von Werks-Konsum-Anstalten zu alten Zeiten Abstand genommen und die Versorgung der Eingesessenen nach dieser Richtung dem freien Spiel der Kräfte überlassen hat, verfügen Harpen und Gerthe‚ über eine hinreichende, aber nicht übersetzte Zahl guter Geschäfte,in denen nicht nur die Gegenstände des täglichen Gebrauchs unter der ausgleichenden Wirkung gesunden Wettbewerbs einzudecken sind. Das gleiche gilt für die verschiedenen Zweige der Handwerkerschaft und der freien Berufe.
Darüber hinaus sind aber Harpen und Gerte in der glücklichen Lage, mehr als das bei sehr vielen Industriegemeinden der Fall ist,ländlichen Charakter bewahrt zu haben. Innerhalb der Gemeindegrenzen liegt von altersher eine ganze Reihe stattlicher Höfe und mittlerer landwirtschaftlicher Betriebe. Soweit die Zechenverwaltungen aus eigenem Besitz nicht den Eingesessenen Bodenflächen für gartenmäßige Bewirtschaftung zur Verfügung stellen können, geschieht das in erheblichem Umfang durch die Landwirtschaft. Daraus erwachsen die Erkenntnisse der Zusammengehörigkeit von Landwirtschaft und Industrie. Die Kohlen- und Eisenindustrie sind sicherlich „Schlüssel-Industrien“. Der Landwirtschaft gebührt aber der gleiche Rang und die gleiche Stellung. Dazu genügt es beispielsweise darauf hinzuweisen, daß im Vorkriegs-Deutschland allein die Milch als Volksnahrungsmittel in ihrem Geldwert größer war, als der Wert der gesamten Steinkohlenförderung plus Roheisenerzeugung. Die wichtigste Rohstoffgrundlage eines Landes ist die, Sicherung der Ernährung. Auch wenn das selbsterzeugte Getreide mehr kosten würde als das eingeführte, würde es doch billiger sein, als das letztere. Das klingt widersinnig, ist aber dennoch wahr. Wir wissen, daß das, Brot, das Amerika in den ersten Nachkriegsjahren zur Verfügung stellte, bitter in jeder Bedeutung des Wortes war. Noch eine andere Erkenntnis ist uns geworden, nämlich die, wie unverantwortlich schwer der Irrtum und die Sünde einer Politik geworden sind, die vielen Millionen deutscher Menschen die Lebensgrundlage nahm und deutsche Bauern vor ihr schwerstes Schicksal stellte, heimatlos zu werden.
Jahrbuch der Vereinigung für Heimatkunde Bochum
1951
Herausgegeben
Im Selbstverlag der Vereinigung für Heimatkunde Bochum
Gesamtgestaltung Presseamtsleiter Albert Lassek – Umschlagentwurf Thea Reuter, Bochum
Druck Laupenmühlen und Dierichs, Bochum, Anzeigerhaus
(Zitierhinweis 2012: Albert Lassek, Bearb.: Jahrbuch der Vereinigung für Heimatkunde Bochum 1951. Bochum 1951. Bochumer Heimatbuch Bd. 5)