Aus Stiepels Vergangenheit

 

Dr. Gustav Wevelscheid

 

Wer, etwa von Bochum kommend, zum ersten Male die Höhen von Stiepel betritt, wird überrascht sein von der Schönheit des Rundblicks,der sich ihm hier öffnet und der in der engeren und weiteren Heimat seinesgleichen sucht. Fragen wir uns, weshalb gerade dieses Landschaftsbild uns immer wieder anzieht und fesselt, so liegt der Grund hierfür in seiner reichen Vielgestaltigkeit und der umfassenden Größe des Panoramas: Die breite, vom Fluß durchströmte Talaue, die das ganze Blickfeld durchzieht, der Kranz bewaldeter Berge und Hügel, der sich von Ost über Süd nach Westen, vom Sauerland bis ins Bergische Land erstreckt, die diesseits und jenseits der Ruhr zur Talaue abfallenden Berghänge, die Buntheit der Siedlungen, geschäftige Industrie und stille Einsamkeit in Berg und Tal, die Burg auf der Höhe und der alte Rittersitz in der Ruhraue, dies alles täuscht uns darüber hinweg, daß wir dem Herzen des nüchternen und an landschaftlichen Reizen armen Industriebezirks so nahe sind. Auch die Stiepeler Landschaft selbst zeigt eine mannigfaltige Gliederung. Die in etwa nordöstlich-südwestlicher Richtung verlaufenden Höhenzüge mit schmaleren oder breiteren Bergrücken lassen ihre Hänge sanfter oder steiler abfallen, wobei sie Terrassen, Mulden und Kuppen bilden, die wiederum durch zahlreiche Täler und Siepen aufgeteilt sind. Wenn wir nun wissen, da diese Hänge und Höhen ursprünglich mit Eichen- und Buchenwäldern bedeckt waren, so verstehen wir, warum die ersten Ansiedler ihren Wohnort S t i p e n 1o h, d. h. ansteigendes Gehölz, nannten. Heute sind jedoch die Wahrzeichen, denen unser Ort seinen Namen verdankt, verschwunden. Die stolzen Eichen- und Buchenwälder sind bis auf einige Reste der Axt zum Opfer gefallen, und aus der einsamen Waldlandschaft von einst ist ein stark besiedeltes, wenn auch noch ländliches Wohngebiet geworden.

Durch viele Jahrhunderte hatte sich Stiepel, wie in allen Gemeinden an Ruhr und Hellweg, eine Wirtschaftsform erhalten, die wir als Hufe- und Markwirtschaft bezeichnen. Sie ist aus der Art der Besiedlung und nach den Bedürfnissen der dort lebenden Menschen entstanden. Lichtungen und Rodungen in den damals unermeßlichen Wäldern boten den Ansiedlern Platz für ihre Niederlassungen. So entstand nach und nach aus Haus und Umgebung der Hof, und die benachbarten Felder bildeten die Hufe. Während ursprünglich alles Siedlungsland Gemeindebesitz war, ging nach längerer Seßhaftigkeit des Siedlers Hof und Hufe in dessen Eigentum über. Der Wald jedoch, der die Siedlungen umschloß, blieb Gemeindeeigentum und wurde M a r k (bewaldetes Grenzland) genannt. Der Ertrag der Felder war im allgemeinen gering; denn mit einer ausgiebigen Düngung befaßte man sich noch nicht. So konnte nur das notwendigste Getreide angepflanzt und gewonnen werden, und das Vieh war während der wärmeren Jahreszeit auf den Weidegang angewiesen. Hierzu dienten die brachliegenden Aecker und die Gemeindewiesen, die sich meist am Rande der Mark entlangzogen. Alles, was zur Bestreitung des Lebens für Mensch und Vieh notwendig war, mußte die heimatliche Scholle liefern. Hierzu wurde man schon durch die Verkehrsverhältnisse gezwungen, da nach heutigen Begriffen die Wege diese Bezeichnung nicht verdienten. Nicht nur Nahrung und Kleidung (Wolle, Leinen), auch alles, was zum Hausbau, für die Herstellung von Möbeln, Ackergeräten usw. notwendig war, mußte daher in nicht allzu großer Entfernung gewonnen werden können. Die Möglichkeit hierzu bot innerhalb der Gemeindegrenzen der Wald mit seinen reichen Schätzen an Holz, Früchten und Kräutern aller Art. Die Stiepeler Mark war wohl eine der größten an der mittleren Ruhr. Erstreckte sie sich doch von der Sprockhöveler bis zur Brenscheder Grenze und umfaßte noch die heutige Gemeinde Buchholz südlich der Ruhr, die früher als Bauernschaft gleichen Namens ein Teil Stiepels war. Uns soll hier nur der nördliche Teil innerhalb der heutigen Grenzen Stiepels beschäftigen. Von dieser eigentlichen Stiepeler Mark ist uns die beigefügte Karte erhalten geblieben, die von der im Jahre 1786 erfolgten Aufteilung der Mark herrührt und die es ermöglicht, sich eine Vorstellung von der Stiepeler Landschaft jener Zeit zu bilden.

 

Sie läßt erkennen, daß der gesamte nördliche Teil Stiepels bis auf einzelne Rodungen im Nordwesten und die Bauerschaft Haar, von Hochwald bedeckt war. Auch die genannte Bauerschaft war rings vom Wald umschlos-sen und stellte somit eine große Waldlichtung dar. Bis über den oberen Teil des Südhanges der Egge zog sich entlang dem ganzen Bergrücken der Wald hinweg. Auch die heutigen Waldreste um den Hof Erley, auf dem Schrick und am Steilhang, der zur Ruhrebene abfällt („Oveneys Berg“), stehen auf ehemaligem Markengrund. Aus der Karte geht weiter hervor, daß der größte Teil des urbaren Landes sich damals auf den südlichen Teil Stiepels beschränkter also im wesentlichen auf den unteren Teil des Hanges der Egge, der mit seinen Mulden, Kuppen und Terrassen zur Ruhrebene abfällt sowie die Talaue der Ruhr. Hier liegen auch fast ausschließlich die ältesten Siedlungen und Höfe.

 

Worin bestand nun die w i r t s c h a f t l i c h e B e d e u t u n g d e r M a r k e n w ä 1 d e r? Außer ihrem wichtigsten Erzeugnis, dem Holz, das als Bau-, Werk- und Brennstoff verwandt wurde, galten Eicheln und Bucheckern als wichtiges Futtermittel für die Schweine; auch die Schafhude wurde von altersher in der Mark betrieben. Die Inanspruchnahme des Waldes durch die Eingesessenen konnte aber nicht dem Gutdünken des einzelnen überlassen werden. Wie schnell wäre dann durch Eigennutz und Mißbrauch die Mark zugrunde gerichtet worden. Seit jeher galten daher für die Nutzung der Markenwälder ungeschriebene oder geschriebene Gesetze und Richtlinien, das sogenannte M a r k e n w e i s t u m. Für die Stiepeler Mark haben schriftliche Abmachungen über die Benutzung der Mark anscheinend nicht bestanden. Hier galten wohl Gesetze, die durch mündliche Ueberlieferung von einer Generation auf die folgende übergingen. Aus den erhaltengebliebenen Weistümern benachbarter Marken geht hervor, daß überall die gleichen Bestimmungen über Verwaltung und Nutzung der Marken galten. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Stiepeler Verhältnisse ziehen. Ferner sind durch A. W e i s zahlreiche Niederschriften über Verhandlungen des Holzgerichts, Vereidigung des Markenvorstandes und dergleichen bekanntgeworden, so daß wir in der Lage sind, uns ein Bild davon zu machen, wie es in der Stiepeler Mark ausgesehen haben mag.

 

Jede M a r k g e n o s s e n s c h a f t verfügte über eine bestimmte Zahl von Anteilen, S c h a r e n oder Scharrechten, in Stiepel waren es 690. Darin teilten sich die Alteingesessenen, wobei die Zahl der Anteile sich nach der Größe des Hofes richtete. Die Scharrechte waren erblich und an jeden der alten Erbhöfe gebunden. Daher rührt auch die Bezeichnung „Erben“ für die an der Mark Berechtigten. Den größten Anteil nahm der Baron auf Kemnade, der die Herrschaft über Stiepel ausübte, mit 177 Scharen für sich in Anspruch. Aus den Reihen der Erben wurde der M a r k e n v o r s t a n d , das Gemark, auch Fürstände oder S c h ä r e n genannt, bestimmt. Dieses Amt übten immer die Besitzer der ältesten Höfe aus. An ihrer Spitze stand der E r b h o l z - r i c h t e r , ein Amt, das stets dem Baron auf Kemnade zufiel.

 

Die Ansprüche, die der einzelne an die Mark stellen konnte, bezogen sich auf die Versorgung mit Brennholz, den Austrieb von Schweinen zur Eichelmast sowie die Schafhude. Der Menge nach richteten sie sich nach der Zahl der Scharrechte. Außer diesen Bezügen standen den Markgenossen für besondere Zwecke Zuteilungen aus der Mark zur Verfügung. Wollte jemand einen Neubau errichten, so wurden ihm aus den Steinbrüchen der Mark die notwendigen Steine, aus dem Walde das Holz zugeteilt. Die verhältnismäßig hohen Anforderungen an Holz, die notwendig waren, um den Bedarf an Brenn-, Bau- und Werkholz zu decken, machten es erforderlich, daß einzelne Schären dazu bestimmt wurden, die Holzzuteilung zu regeln. Gegen unbefugte Holzentnahme wurde eingeschritten. Auch die für Stiepel zuständigen Drosten (Amtmänner) der märkisch-clevischen Verwaltung in Blankenstein durften ohne Genehmigung des Erbholzrichters in der Stiepeler Mark weder Holz schlagen noch Steine brechen. Wir entnehmen dies einem Gesuch des Drosten Johann von der Recke, das dieser an seinen Vetter Konrad von der Recke auf Kemnade im Jahre 1570 richtete, „etliche Decksteine in der Herrlichkeit Stiepel ihm vergunnen zu breken“. Glaubte jedoch irgendwann einmal ein Drost sich über das Recht hinwegsetzen zu dürfen und ließ seine Knechte Holz im Stiepeler Walde schlagen, so mußte er gewärtig sein, daß seinen Leuten Axt und Ketten abgenommen und die Pferde ausgespannt wurden . . . aber „ohne was der Drost mit Gewalt durch seine Soldaten holen ließ“. So berichten Gerichtsakten, aus dem Jahre 1556 über eine Klage der Schären gegen den Drosten auf Haus Weitmar, Wessel von der Brüggeney, genannt Hasenkamp, wegen schweren Holzfrevels. Es handelte sich darum, daß am Pfingstmontag, als die Gemeinde ihre Hagelfeier hielt und „in dem Kerspel (Kirchspiel) mit dem hilligen Krüz und Fahnen umgegangen, tegen dem Roenberg (etwa in der Gegend der Romersheide) in der Holtmark einen fruchtbaren Eikenboem dall und gehowen (gehauen) vorfand, demselben nachfolgte bis in des ehrenfesten Wesselen Hoff“. Die Schären waren über diesen Holzraub um so ungehaltener, als der „ehrenfeste Herr“ noch im Jahre vorher, so ettliche boum durch einen grausamen Wind dallgeschlagen, op sine bede (Bitte) schone holter to koir (nach Wahl) seiner Deiners gewyst erhalten“. Unverständlich sei es auch, daß sich der Täter „solches unbilligen Holzhauwens und Wegförns“ schuldig mache „besonders by sodaniger hilliger hochzyt (festliche Zeit) und by nachte (der Baum war am Pfingstmontag in der Frühe zwischen 4 und 5 Uhr geschlagen worden), wann nach göttlichem und der hilligen Kerken Gebot alle Menschen und Vieh mit aller Billigkeit feiern und rasten sollen“. Wenn die fruchtbaren Bäume geschlagen wurden kamen die Markgenossen nicht nur in ihrer Nahrung zu kurz, sie könnten dann auch die Pacht an den Herrn in Stiepel, der ja gleichzeitig der Gerichtsherr und Erbholzrichter war, nicht zahlen. Sie baten daher darum, daß der von Brüggeney entschieden vor weiterem Holzfrevel gewarnt werde.

 

Oft mußte auch gegen einzelne Markgenossen oder andere im Kirchspiel Ansässige eingeschritten werden, wenn es sich um eine unbefugte Holzentnahme oder Verletzung des Weiderechtes handelte. Wer dabei getroffen wurde, daß er einen Baum „unangesehen von sich selves“ fällte, wurde „von seiner Liebden (dem Erbholzrichter) scharp genog gebröckt (gestraft)“. Von großer Bedeutung für jeden Markgenossen war bei dem Mangel an sonstigen Futtermitteln der Austrieb der Schweine zur Eichel- und Bucheckernmast. Schon im Sommer wurde festgestellt, wie groß die zu erwartende Eichelernte sein würde, ob also eine „volle, halbe oder geringe Gottesmast“ zu erwarten sei. Danach bestimmte sich die Zahl der Schweine, die der einzelne Markberechtigte je nach der Größe seines Anteils in den Wald treiben durfte. Die Tiere wurden vor dem Austrieb mit einem Brandmal versehen, um die Beteiligung Unbefugter an der Mast zu verhindern.

 

Auch die Ausübung des Rechtes der Schafhude war nicht in das Belieben des einzelnen gestellt. Natürlich kam es oft vor, daß einzelne Bauern mehr Tiere austrieben, als ihnen zustand, ja einige waren so weit gegangen, ganze Schafherden mit Schäfer und Hunden in die Mark zu schicken. Darüber brachen dann oft größere Streitigkeiten aus, die auch vor Gericht ausgetragen wurden. Bei einer solchen Verhandlung, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts stattfand, wurden die alten Rechtsgrundsätze wieder in Geltung gesetzt und bestimmt, daß die Bauern für jeden in die Markenkasse gezahlten Reichstaler 10 Schafe halten durften. Wurde gegen dieses Gebot durch Ueberschreiten der Zahl verstoßen, so sollten die überzähligen Tiere der Beschlagnahme verfallen.

 

Das A m t d e r M a r k e n v o r s t e h e r oder Schären scheint nicht immer ein leichtes gewesen zu sein, da sie für eine ordnungsgemäße Bewirtschaftung der Mark zu sorgen hatten und gegen unbefugte Eingriffe aller Art vorgehen mußten. Erschwert wurde ihre Tätigkeit noch dadurch, daß die Markenwaldung wegen ihrer großen Ausdehnung schwer zu überwachen war und die Höfe der Schären weitab von ihr lagen. Denn mit Ausnahme von Westermann auf der Haar lagen die Besitzungen der Markenvorsteher alle südlich der Egge. Wenn die „Fürstender“ aber ihren Pflichten nicht ausreichend nachkamen, drohten dem Gemeindewalde schwere Schäden. Damit sie nun ihre Pflicht gebührend ernst nahmen, mußten sie einen A m t s e i d ablegen. War dies einmal versäumt worden, so zeigten sich die Folgen in den bald einreißenden Mißständen in der Bewirtschaftung der Mark. Dann mußte die V e r e i d i g u n g baldigst nachgeholt werden. Wie sie vor sich ging, zeigt uns ein Protokoll vom 12. Oktober 1576. Sämtliche Vorsteher und Markgenossen waren zusammengerufen, damit in ihrem und des Gerichtsherrn Beisein der Richter den Schären den Eid abnahm. Der Baron – es handelte sich um Konrad von der Recke – beklagte es, „daß in der Mark viel Schaden, Ohnrat und Verderbnis geschehe, welches vornehmlich dadurch verursacht, daß etliche Schären und Fürstender bisher noch nicht vereidigt wären“. Diejenigen unter ihnen, die bereits bei Lebzeiten seines Vaters, Dietrichs von der Recke, vereidigt waren, mußten ihren Schwur durch Handschlag erneuern. Es waren dies Johann Henke der Aeltere, Jorgen Schulte ter Oven und Jorgen Munkenbeck. Alsdann wurden vereidigt: Johann Westermann auf der Haar, Robert Schulte zu Umberg, Evert im Korve (Korffmann), Johann Schulte zu Kortwig, Heinrich Hasenkamp und Jorgen Wefelscheid. Auch die Eidesformel findet sich in dem Protokoll. Von den vereidigten Schären heißt es, sie „haben mit aufgerichteten leiblichen Fingern zu Gott und zu seinem heiligen Evangelio gelobet und geschworen, daß sie als Stiepeler Gemark der Mark und Erben Fürteil getreulich und nach allem Vermögen fördern, Schaden und Aerger, so sie könnten, abwenden und verhüten wollten. Und so ihnen einiger Schaden in der Mark kundig würde, wollten sie denselben an den Oertern (amtl. Stellen), wie sich‘s gebührt, anbringen, und keineswegs, weder aus Freundschaft und Gunst, noch durch Gaben etwas verhalten und verschweigen und auch alles tun und geschehen lassen, was einem Schere gemelter Stiepeler Mark nach altem Recht und Gewohnheit zu tun obliegt und gebühret. Nachdem solch Eid geschehen, hat auf Begehren und Anhalten der Scheren und Erben der Herr zu Stiepel ihnen zugesagt, sie bei alten Rechten der Mark zu lassen und zu schützen nach seinem Vermögen und soviel ihm zustehe.“

 

In anderen Niederschriften, die aus verschiedenen Jahrhunderten stammen, werden außer den oben angeführten Namen noch folgende Schären genannt: Dücker-Neylink, Schulte by der Kerken (Hofstiepel), Schulte to Schüren, Overney (jetzt Behrenbeck), Erley, Netlenbeck (Nettelbeck).

 

Im Laufe der Zeit wurden einzelne Teile der Mark gerodet, da das alte Kulturland für die wachsende Bevölkerungszahl nicht mehr ausreichte. Die R o d u n g , auf die sich auch noch die Namen Romberg, Rumberg und Romersheide beziehen, erfolgte in Gemeinschaftsarbeit. Die gewonnenen Ländereien wurden an die Bauern oder Kötter in Erbpacht gegeben. Die Einnahmen aus diesen „Gewinnländern“ flossen in die Markenkasse. Dies geschah auch mit den Erlösen aus der Holzzuteilung, mit den Weidegeldern sowie mit den Bußen oder „ Brüchten“, die für Holzfrevel oder unbefugten Viehaustrieb verhängt wurden. Der Hauptteil der Markengelder wurde an die Kirchenkasse abgeführt und kam dadurch auch mittelbar der Schule zugute. Ein mehr oder weniger ansehnlicher Rest wurde alljährlich von den Erben gemeinsam in der Kamplade verzehrt.

 

Die schönen Stiepeler Waldungen blieben dem Kirchspiel durch viele Jahrhunderte hindurch erhalten, ohne daß in ihren Bestand stärker eingegriffen wurde. Zahlreiche Generationen haben aus ihnen Nutzen gezogen, ja, in den langen Zeiträumen, in denen Stiepel, von tiefen Wäldern rings abgeschlossen, dahinlebte, stellte die Mark eine unentbehrliche wirtschaftliche Hilfsquelle dar, die allen Eingesessenen eine auskömmliche und gesunde Lebensgrundlage schaffen half. Aber mit dem Aufkommen der neuen Zeit, die sich mit der Industrieentwicklung und der schnell wachsenden Bevölkerungszahl ankündigte, war auch das Ende der Mark angebrochen. Die Industrie, insbesondere der Bergbau, verlangten Holz, die Bevölkerung neues Siedlungsgelände. Aus dem Gemeindewald konnten aber weder Holz noch Grund und Boden verkauft werden. So wurden Bestrebungen laut, die Mark entsprechend den Anteilen der Erben aufzuteilen. Sie wurden gefördert durch die Preußische Regierung unter Friedrich dem Großen, die sich von dem Uebergang des Bodens in Privateigentum größeren wirtschaftlichen Nutzen und damit eine Erhöhung der Steuerkraft versprach.

 

In dem Erlaß vom 18. Juli 1765 ordnete daher der König die A u f t e i 1 u n g d e r M a r k e n grundsätzlich an und unterstellte ihre Durchführung einer besonderen Deputation in Hamm. In Stiepel war sie am 31. Oktober 1786 beendet. Das einzige Zeugnis darüber haben wir in der bereits vielfach erwähnten Karte vorliegen.

 

Die Karte,von dem Geometer Joan Peter Hobrack gezeichnet, der wohl auch die Vermessung der Mark ausgeführt hatte, entspricht sicher nicht den Anforderungen, die man heute an eine Katasterkarte stellt, um so wichtiger ist sie uns jedoch als Dokument von der damaligen Stiepeler Landschaft und den Besitzverhältnissen hinsichtlich von Grund und Boden nach Aufteilung der Markenwaldung. Leider ist die Eintragung der Höfe und Kotten, auch im südlichen Abschnitt, nur lückenhaft, aber verständlich, da es dem Zeichner ja im wesentlichen auf die Darstellung der Mark ankam. In den eingezeichneten Fahrwegen – ausgebaute Straßen besaß Stiepel damals noch nicht – erkennen wir u. a. die heutigen Straßenzüge der Kemnader-, Brockhauser-, Gräfin-Imma-, Varenholt- und Hevener Straße. Der wichtigste Inhalt der Karte besteht darin, daß in die Parzellen, in die die Mark aufgeteilt wurde, die Namen der Eigentümer eingetragen sind. Die größeren Stücke fielen den alteingesessenen Bauern und ehemaligen Schären, allen voran aber dem Baron auf Kemnade zu. Daneben finden sich zahlreiche kleinere Streifen, die an die markenberechtigten Kötter (Erbkötter) fielen. Auch das staatliche Forstamt erhielt einen ansehnlichen Teil, ebenso wurden das Pastorat, der Pastorat-Witwensitz, die Schulvikarie, die Küsterei, der Organist und die Armenverwaltung mit entsprechenden Anteilen bedacht.

 

Die auf der Karte verzeichneten Namen sind in der folgenden Liste zusammengestellt, wodurch wir ein Verzeichnis der damals seit längerem in Stiepel bodenständigen Bevölkerung gewinnen. Es fehlen allerdings die nicht markenberechtigten Kötter und die Inhaber von Einliegerwohnungen, deren Zahl aber nicht sehr groß gewesen sein kann. Sicherlich haben wir es hier mit den älteren und ältesten Stiepeler Sippen zu tun.

 

Mit dem Ende der Stiepeler Markgenossenschaft war auch das Urteil über den Wald gesprochen. Die meisten Besitzer schritten zur Abholzung und zum Verkauf oder Verpachten des gewonnenen Landes. Ganz hemmungslos in der Preisgabe seines Waldbesitzes in Stiepel war der Lehnsvasall auf Kemnade (seit 1801 Joh. Phil. Giesbert von Syberg), indem er den Wald, der sich von der Brenscheder und Querenburger Grenze nach Süden erstreckte und die heutigen Ortsteile Voßkuhle, Haarholz bis etwa zum Gebrannten umfaßte, vollständig kahlschlagen ließ. Ueber diese Waldtragödie – als solche kann man diesen Vorgang wohl bezeichnen – erfahren wir Näheres durch eine Klage, die die beiden Brüder des Syberg „auf dem adelichen Gute Wischelingen bei Dortmund“ zu Beginn des Jahres 1806 gegen den Kemnader bei der damaligen Fürstin von Lippe führten. In einem amtlichen Bericht über diese Angelegenheit an die Lippische „Lehns Kanzley“ heißt es:

„Zu diesem Lehn-Gute (Kemnade) gehört unter andern eine beträchtliche Holzung, das Haar Gehölz genannt, welches ungefähr 30 Scheffelsaat (über 60 Morgen) an Flächen Inhalt hat und von den vorigen und früheren Vasallen ihren Lehns-Pflichten gemäs in einem ganz zweckmäßigen – Forstwirtschaftlichen Zustand gesetzt war und vieles aufstehendes schönes Gehölz hatte. Statt daß nun auch der Implorat (Beklagter) als jetziger Vasall, seinem Lehn Eyde gemäs ‚Das Lehn-Gut getreulich zu verwahren und bedienen‘ gedachtes Gehölz auf das beste conservieren sollte, da ohne solches ein adliches Gut in Rücksicht auf Unterhaltung der Gebäude, Frechtungen und sonstigen Bedarf kaum bestehen kann, – so hat er sich vielmehr angemaßet:

 

Diese große Holzfläche von dem aufstehenden hohen Gehölze gänzlich zu entblößen, indem er dasselbe respec. Scheffel und Nummer Weise – zum Verkauf ausgesetzt hat.

 

So liegt nunmehr diese gewesene schöne Holzung als eine Wüste dar und die Substanz des Lehn-Gutes ist selbst dadurch angegriffen und zum Untergang befördert“ . . . Es wird dann beantragt, „daß vor allem dem Imploraten weitere Deterioration (Verringerung, Verschlechterung) des Lehn-Guts nachdrücklichst untersagt; derselbe aber wegen der bereits geschehenen Deterioration und dadurch sich schuldig gemachten Verletzung des Vasallen-Eides – des Lehn nicht nur für verlustig erklärt, sondern auch zur Entschädigung. . . angewiesen werde.“

 

In einem Schreiben der beiden Sybergs auf Wischelingen an die Fürstin lesen wir: „Eventualiter aber tragen wir untertänigst gehorsamst darauf an: Die Deteriorationen des Lehnguts auf das genaueste untersuchen zu lassen, demnächst ein geschärftes Inhibitorium (Verwarnung) an den jetzigen Vasallen zu erlaßen, und die weiteren Rechtsmittel in Ausführung zu bringen.Auch sie beide dringen darauf, den Kemnader seines Rechts als Vasall nach den Lehnsrechten für verlustig zu erklären, wohl in der stillen Hoffnung, sein Erbe als „die nächsten Agnaten“ (Erbberechtigte) antreten zu können. Aber alle Einsprüche waren erfolglos.

 

Die Preußische Regierung, insbesondere der Berliner Hof, lehnte das Ersuchen der Lippischen „Lehns Kanzley“ auf Einleitung eines Verfahrens gegen den Kemnader ab. Der Beschuldigte suchte seine Handlungsweise mit der starken Verschuldung des Kemnader Besitzes zu erklären. Seiner Bitte um nachträgliche Genehmigung dieses rücksichtslosen Holzeinschlages scheint man stillschweigend entsprochen zu haben.


Das schlechte Beispiel, das der Kemnader gab, hat unter den Bauern leider ‚ viele Nachnahmer gefunden. Zum Teil wurden sie aber hierzu auch im Interesse ihrer Kinder veranlaßt. Für manchen Bauernsohn, der als Hofeserbe nicht in Frage kam und daher gezwungen war, ein Handwerk zu erlernen oder in den „Kohlberg“ zu gehen, mußte eine neue Wohnstätte geschaffen werden. Da das bereits urbare Land für die Bebauung nicht hergegeben wurde, bot der weite Raum der Stiepeler Mark die Möglichkeit, auf eigener
Scholle, mit ein paar Morgen Land, ein bescheidenes, aber selbständiges Leben zu führen. Auf diese Weise, aber in den meisten Fällen durch Verkauf, fiel eine Waldparzelle nach der anderen der immer stärker werdenden Be
siedlung zum Opfer.

 

Auf dem Grunde der Mark entstand so eine Streusiedlung aus zahlreichen Kotten, die dem Stiepeler Landschaftsbild bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts das Gepräge gab. Auch die Bauweise änderte sich bald, nachdem das Holz der Wälder in die Stollen und Schächte der Zechen gewandert war. Während die alten Baumeister mit den heimischen Baustoffen Stein, Holz und Lehm ihre schmucken Fachwerkbauten errichteten, die uns fast wie natürliche Bestandteile der Landschaft erscheinen, treten immer mehr die Steinbauten ihre Herrschaft an, die aber in ihrer eintönigen Nüchternheit unsern Blick mehr abstoßen als fesseln.

 

Daß zwar mancher Bauer sich den durch jahrhundertelange Ueberlieferung entwickelten Sinn für die Bedeutung und Erhaltung des Waldes bewahrt hatte und ihn schließlich doch verloren gab, trat gelegentlich der Ver-äußerung des S c h u 1 b u s c h e s (Markenanteil der Schulvikarie) hervor. Der über 14 Morgen große, in der Egge gelegene Waldbestand sollte abgeholzt und das Gelände dann verpachtet werden, und „die sich dadurch bildenden Revenuen (Einkünfte) sollen dazu benutzt werden den Lehrer für den Genuß des bezogenen Brandholzes zu entschädigen und das Schulgebäude im Dorf zu unterhalten“.

 

In der Gemeindevertretung wurde die Angelegenheit am 28. Januar 1837 verhandelt. Mit Stimmengleichheit (12 gegen 12) verfiel der Antrag auf Verkauf zunächst der Ablehnung, und es wurde beschlossen, den herabge-kommenen Waldbestand wieder ordnungsmäßig zu bewirtschaften. Diejenigen aber, die sich größere Vorteile für den Gemeindesäckel durch den Holzverkauf und die Verpachtung des Grundstücks versprachen, haben dann zwei ihrer Gegner so stark unter Druck gesetzt, daß diese „expost“ – wie es in der Niederschrift des Blankensteiner Amtsbürgermeisters Pickert heißt – bei diesem erschienen und erklärten, nachdem sie sich besonnen sähen sie wohl ein, daß es doch besser sey und sie sich also denen beipflichten wollten, welche für die Veräußerung stimmen“. Der natürliche Sinn des Bauern,die Ehrfurcht vor dem, was der Wald ihm bedeutete, war durch die Vorspiegelung geldlicher Vorteile erstickt worden. Wie in vielen anderen Fällen, war damit auch hier das Schicksal über den Wald gesprochen.

 

Die Stiepeler Waldlandschaft von einst ist seit langem dahin. Bitter rächt es sich heute, daß die Aufteilung der Mark so gründlich durchgeführt wurde, daß nicht ein, wenn auch nur bescheidener Teil als Gemeindewald erhalten geblieben ist. Nur ein Teil des Henkenbergs ist viel später in den Besitz der Stadt übergegangen und sollte vor weiteren Eingriffen dadurch geschützt werden, daß man ihn baldigst unter Naturschutz stellt. Den übrigen, erhalten gebliebenen Resten des Markenwaldes, z. B. Oveneys-, Hautkappen-, Strunks-, Erleys-, Haarmannsbusch droht trotz aller (unvollkommenen) behördlichen Maßnahmen über kurz oder lang die Vernichtung. Die Einsicht, daß die Erhaltung des Waldes durch seinen Einfluß auf Klima, Grundwasserführung, Ackerkrume, Tierleben usw. von entscheidender Wichtigkeit für unsere Lebensgrundlage ist, sollte vor allem in unserer engeren Heimat in allen Kreisen geweckt werden. Wir sind in Bochum nicht in solch glücklicher Lage wie unsere Nachbarstädte Essen und Dortmund, die in ihren südlichen Bezirken über ausgedehnte, zum Teil mehrere tausend Morgen große Waldungen als Erholungsgebiet für die Bevölkerung verfügen. Darum sollte das, was bei uns, vor allem auch in Stiepel, an natürlichen und landschaftlichen Schönheiten noch vorhanden ist, mit allen Kräften erhalten und geschützt werden. Eine große Arbeit wird noch zu leisten sein, um all die Schäden, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit unsern Wäldern zugefügt wurden, zu beseitigen und darüber hinaus Schutthalden und öde Berghänge zu bepflanzen sowie die Landschaft durch planvolle Besiedlung so zu gestalten, daß auch in der Nähe der großen Städte noch Raum bleibt für Wald und Wiese, Feld und Busch.

 

Impressum

Jahrbuch der Vereinigung für Heimatkunde Bochum

 

1951

 

Herausgegeben

Im Selbstverlag der Vereinigung für Heimatkunde Bochum

 

Gesamtgestaltung Presseamtsleiter Albert Lassek – Umschlagentwurf Thea Reuter, Bochum

Druck Laupenmühlen und Dierichs, Bochum, Anzeigerhaus

 

(Zitierhinweis 2012: Albert Lassek, Bearb.: Jahrbuch der Vereinigung für Heimatkunde Bochum 1951. Bochum 1951. Bochumer Heimatbuch Bd. 5)