Graf Ostermann * 1687 in Bochum, verst. 1747 in Beresow

 

Kleff

 

Friedrich der Große schreibt einmal: „Unter der Regierung Peters des Großen hatte sich in der Schule der Erfahrung ein Mann herausgebildet, der imstande war, die Last der Staatsgeschäfte unter seinen Nachfolgern zu tragen: Graf Ostermann. Als geschickter Steuermann lenkte er das Staatsschiff mit stets sicherer Hand durch die Stürme der Revolutionen. Er stammte aus der Grafschaft Mark in Westfalen und war von niedriger Herkunft. Aber die Natur teilt die Talente ohne Rücksicht auf den Stammbaum aus. Dieser Minister kannte Rußland wie Berheyn den menschlichen Körper. Er war vorsichtig und kühn, je nach den Umständen, und entsagte den Intriguen am Hofe, um sich die Leitung des Staates zu erhalten.“ So urteilte der große König über H e i n r i c h J o h a n n F r i e d r i c h O s t e r m a n n aus Bochum, den späteren russischen Vizekanzler und Gerneraladmiral Andreas Graf von Ostermann.

 

 

Ein Bochumer Student von Jena nach St. Petersburg

 

Der Urgroßvater des Grafen, Matthäus Ostermann, der 1598 und 1618 als Bochumer Bürgermeister genannt wird, war als Student der Rechtswissenschaften recht weit in die Welt gekommen. 1582 z. B. finden wir ihn in Graz. 1583 leistete er in Bochum den Bürgereid. Aus der Eintragung im Bürgerbuch des Bochumer Stadtarchivs: „Matheus Ostermann von Wiemelhausen“ geht hervor, daß er vom Ostermannschen Hofe in Wiemelhausen stammte. Wiemelhausen, ein südlicher Vorort, wurde 1904 nach Bochum eingemeindet. Der Ostermannsche Hof gehörte zu den ältesten dieser Gemeinde; u. a. wird er schon im Schatzbuch der Grafschaft Mark von 1486 erwähnt. Er wurde vor Jahren an die Deutsch-Luxemburgische Bergwerksgesellschaft verkauft. Die Hofstätte ist noch erhalten. Der letzte Aufsitzer allerdings war dem Blute nach kein Ostermann mehr.

 

Der Großvater Johann Ostermann, von 1637 – 1675 Pfarrer der lutherischen Gemeinde Bochum, erbaute 1655 die Pauluskirche. Seine Frau war eine Tochter des Predigers an der Hauskapelle zur Wischelingen, die zu St. Reinoldi in Dortmund gehörte, und Lehrer der Dortmunder höheren Schule: Johann Zythopäus. Er stammte aus Hachenburg in der Grafschaft Sahn. Daraus erklärt sich auch, daß unter den Taufzeugen Heinrich Johann Friedrich Ostermanns ein Landschultheiß Brüer aus Hachenburg erscheint. Der älteste Sohn dieser Ehe war der 1641 geborene Evert, der 1667 Pastor zu Werden wurde und dort am 8. 5. 1699 starb. Ein weiterer Sohn, Dr. Heinrich Ostermann, kam nach Lübeck, wo er sich 1676 verheiratet und 1700 kinderlos starb. Ein anderer Sohn, Christoph Dietrich, ging nach Schweden, wurde Stadtschreiber in Karlstrona und starb dort 1718 als Ratsherr. Auf ihn geht der 1792 in Upsala geborene Leutnant Ulrich Ostermann zurück, der 1836 spurlos verschwand.

 

Ein weiterer Sohn Johann Ostermanns war sein Nachfolger im Bochumer Pfarramt, Johann Konrad Ostermann. Er hatte in Dortmund, Kiel und Gießen studiert und war ( in zweiter Ehe) verheiratet mit Ursula Magdalena Witgenstein, Witwe des Dr. Johann Bölling. Aus dieser Ehe gingen 4 Söhne hervor. Johann Konrad starb 1685 im zartesten Alter. Johann Adolf studierte mit seinem Bruder Johann Christoph Dietrich Rechtswissenschaft in Köln, Duisburg, Jena und Leipzig. Johann Adolf ging 1711, nachdem ihm Frau und Kinder gestorben, nochmals nach Jena, wo er 1711 als „juris Doctorand“ starb und in der Kollegiatkirche bestattet wurde. Johann Christoph Dietrich kam 1702 mit dem aus Essen stammenden Staatsrat Heinrich Hunssen über Dresden und Wien nach Petersburg, wurde Lehrer am Hofe und später mecklenburgischer Geschäftsträger. Beim Sturze seines Bruders mußte auch er Rußland verlassen. Er lebte dann bei Verwandten auf Bönninghausen in Eickel und starb unverheiratet bei Verwandten in der Nähe Werdens kurz vor dem Siebenjährigen Kriege.

 

Der bedeutendste der Söhne Johann Konrad Ostermanns war H e i n r i c h J o h a n n F r i e d r i c h. Er wurde am 9. Juli 1687 geboren, nicht, wie so oft zu lesen ist, 1686. Das Geburtshaus stand Ecke Schützenbahn-Bongardstraße, es war die bekannte spätere Wirtschaft Bernhard Dahm, die 1906 abgebrochen wurde. (heute Brunstein und Woolworth.)

 

Nach Dr. Kortum hat Pfarrer Ostermann seinen Sohn, der „lebhaft, feurig und cholerisch gewesen, strenge gehalten und sich äußerst bemüht, ihn fromm und christlich zu erziehen“. Sein erster Lehrer war Johann Heinrich Matthäi, der 1701 als Prediger und Rektor nach Elbe ging. In der Schule zu Bochum „wurde zugleich die lateinische Sprache nebst anderen Humanioribus gelehrt“. Nach dem alten Wirtschaftsbuche des Pfarrers Ostermann, in dem genau verzeichnet ist, was er seinen Söhnen während ihrer Studienzeit zuwendet, schickte er seinen Sohn Johann Heinrich am 15. Juni 1699 nach Soest zur Schule. Dort ist er „bei Herrn Diest für wöchentlich 1 Rtlr. An den Tisch getreten“. Im Juli erhielt er drei Bücher (theologische Kontroversen, die ciceronischen Briefe und Offizien) und ein Körbchen mit Kirschen. Als Komödie gespielt wurde, übermittelte der Vater 1 Taler. Am 25. Oktober 1700 zog der junge Ostermann nach Dortmund zur Schule. Dort wurde er bei Herrn Hiltrop „ins Logement gethan“ für wöchentlich 7 Blamüser. Im folgenden Jahre ging er jedoch wieder nach Soest, und zwar am 21. April. Er bekam mit „vor Behrung 20 Stüber, vor ein paar Schue 45 Stüber“. Nach kurzer Zeit schickte der Vater Pasoris griechische Manuale. „So Dr. Becker, Präzeptor zu Rechen, geliehen“. Ein Bote, der lahme Henrich, brachte u. a. ein Elaircordium. Unter den Studiengegenständen finden wir ein collegium logicum und gallicum erwähnt. Am 20. Juli 1702 holten Gertrud, die Magd – der Pfarrer war schon 1696 wieder Witwer geworden – und der lahme Henrich den jungen Studenten mit seinen Sachen wieder heim. Der Botenlohn betrug 30. Stüber.

 

Am 21. August 1702 reiste Johann Heinrich Friedrich Ostermann, 15 Jahre alt, nach Jena zur Universität. Dort wurde er am 9. September eingeschrieben. Der Vater hatte ihm 50 Tlr. mitgegeben. „Für den Boten Esaias“, der, nach dem Namen und anderen Aufzeichnungen zu schließen, auch Geldgeschäfte besorgte, wurden 6 Tlr. Ausgegeben. Und wie vor Jahren der Vater den älteren Söhnen in Köln das Studium dadurch erleichterte, daß er durch Boten, die meist Handelsleute waren, allerlei kräftige Nachhilfe in Gestalt von Würsten, Schinken, gebratenen Gänsen und Hühnern, „Kauzungen“, „Mostertstücken“ usw. übermittelte, so machte er es auch jetzt. Neben dem Boten Esaias war wiederholt auch ein Friedrich tätig. Einmal legte der Vater für eine „Bibell und ein spanisch Rohr, so unten und oben mit Silber beschlagen“, 3 Tlr. und 10 Stüber aus. Geldsendungen ziehen sich bis 1703 hin. Dann brechen die Aufzeichnungen für Jena ab.

 

Wie Dr. Kortum erfuhr, soll der Student der Rechte „in Jena sehr fleißig gewesen sein, aber doch zuweilen wegen seines hitzkopfes Bändel gehabt haben“. Er wurde auch in das oft wüste studentische Leben damaliger Zeiten hineingezogen. Das gab Veranlassung zu einer Bluttat, die Wende für Ostermanns merkwürdige Lebensschicksale wurde. Johann Friedrich Tymann, der von 1714 – 1743 Pfarrer in Uemmingen war, berichtete darüber als Augenzeuge:

 

„Auf den Keller zu Jena kommt ein Student, der seine Studien vollendet und sich die Post bestellet hatte, um nach Hause zu reiten. Er läßt sich Essen reichen und setzt sich mit seinen Freunden in den Winkel eines Zimmers, in dem ein Schwarm betrunkener Westfälinger toset. Unter diesen ist der kleine Ostermann ( D. soll ein hübscher Mann, aber klein von Figur gewesen sein), der, trunken, den Einfall bekommt zu tanzen und sich dabei so seltsam gebehrdet, daß der hinter dem Tische auf einer Bank sitzende Fremde darüber lächelt. Einer von der lärmenden Gesellschaft, der dies bemerkte, sagt zu Ostermann: Bruder, der da lacht dich aus. Ohne dies näher zu untersuchen und die gewöhnlichen Förmlichkeiten zu beobachten, zieht Ostermann den Degen und stößt den unglücklichen Jüngling augenblicklich nieder. Er flohe und entkam der Justiz.

 

1703 wurde im Jenaer Totenbuch S. 129 bemerkt:

„Herr Burgerding L. L. Studiosus, welcher den 4. May vorher Abends halb 12 Uhr auf der Hofe durch einen Studiosum Nahmens Ostermann bürtig aus Westfalen, in großer Trunkenheit erstochen worden und am 5. Max 1703 in Jena begraben.“

 

Aus der Matrikel der Universität Jena ergibt sich, daß der unglückliche Student Gerhard Friedrich Borgerding aus Hannover war. Er hatte sich schon zu dem am 4. August 1699 beginnenden Semester einschreiben lassen. Es ist begreiflich, daß sich die Aufzeichnungen des Vaters über die unglückliche Tat und den Aufenthalt des flüchtigen ausschweigen. Der junge Student wandte sich nach Holland. Darauf deuten auch die Aufzeichnungen des Vaters hin. Am 29. März 1704 hält er mit dem ihm verwandten Rentmeister Rodtberg in Werden Abrechnung und erstattet ihm, was er „zu den Reisekosten nach dem Haag ausgelegt“, begleichen auch „die 15 Tlr., womitt er bezahlen sollte daß gelde, so er bei Herrn Stoet zu Ambsterdam für meinen Sohn geliehen“. Wohl absichtlich dunkel bleibt er, wenn er einträft: „1704 den 11. April als mein Sohn Heinrich Johann Friedrich bereiset, hatt Rodtberg auf seinen Kredit bei Beckmann zu Essen für ihn aufgenommen elf Ellen Tuch, die Elle davon soll kosten ein Tlr., so ich ihm zahlen muß“. Am 8. September 1704 bekommt der jenaische Bote Friedrich 3 Tlr. mit für „Schelhasen, so Vollmacht damahlen wegen meines Sohnes Heinrich Joh. Friedr. Zugeschickt“. Schelhas war damals Hofgerichtsadvokat und Bürgermeister zu Jena. 1705 bezahlt ihm der Pfarrer Ostermann die „Reise uff Osnabrück zu den Studioso, obgleich nichts ausgerichtet“. Auf die Regelung der Jenaer Angelegenheit hat dann wohl noch Bezug, daß im April 1706 „umb Dispens zu Elebe angehalten“ wird, wozu der Vater 30 Tlr. aufwendet. Dann herrscht Schweigen über Heinrich bis 1710. Der Vater verzeichnet: „Den 15. August 1710 bin ich mit Johann Adolf uff Berlin gezogen und findt wir uff der Reife gewesen bis an den 7ten Tag; in Berlin unß auffgehalten 4 Tage. H. J. F. (= Heinrich Johann Friedrich) habe mitgegeben einen vergüldeten pfennig noch einen silbernen pfennig. Zur Reise habe mitgenohmen hundert Tlr., von welchen zurückgebracht 22 Tlr. und 40 St.“ Wahrscheinlich war der inzwischen zum Kanzleirat aufgestiegene Sohn mit in Berlin wegen polnischer Fragen. Nach langen Jahren sahen sich Vater und Sohn zum ersten Male wieder, aber auch zum letzten Male. Der einzige Hinweis auf den Aufenthalt der Söhne in Rußland findet sich unterm 26. März 1711. Pastor Ostermann gibt seinem Sohne Johann Adolf zwei Briefe mit nach Jena, „so er ahn meine Söhne uff Moscau verschicken sollte“.

 

Aus der Tat der Trunkenheit ließ und läßt sich kein Duell machen. Es ist wohl glaubhaft, daß es nicht an Versuchen gefehlt hat, die unglückliche Sache so oder so aus der Welt zu schaffen. So lange der Makel von Jena nicht gelöscht war, war an eine Rückkehr von Rußland und an Unterkommen irgendwo in heimischen Landen nicht zur denken. Versuche dazu wird Ostermann gemacht haben, so, als er 1716 Peter den Großen auf seiner Reise nach dem Westen begleitete. Der Verfasser eines Gespräches im Reiche der Toten aus 1742 läßt Ostermann sagen: „Zu gleicher Zeit (1716) besuchte ich mein Vaterland und bemühte mich daselbst unter der Hand, ein Land = Dorf zu werden, weil ich sahe, wie gefährlich es in russischen Diensten sei . . Allein es wurde mir abgeschlagen“. Auf dieser Reise ließ Ostermann auch einmal die Mutter des unglücklichen Studenten zu sich bitten, um unter Anbietung einer ansehnlichen Geldsumme Abbitte tun zu können. Allein die Mutter ließ ihm sagen: „Zu dem Mörder meines Sohnes komme ich nicht!“ Auch dann noch, als Ostermann nach dem Anstädter Frieden zu wirklichem Ansehen gekommen war, blieb Jena hart; der Schatten einer raschen Tat ging mit ihm bis zum Blutgerüst.

 

Im Sommer 1703 kamen Steckbriefe auch nach Bochum. Sie waren in damals üblicher Weise von den Kanzeln bekannt zu machen. Pastor Ostermann bekam das peinliche Schreiben eines Sonntagmorgens „kurz vorher, da er die Kanzel besteigen wollte. Er fiel in Ohnmacht und konnte die Predigt nicht halten“. Der Steckbrieflich Verfolgte war schon nach Holland gelangt. Von dort hoffte er wie so viele andere den Weg nach Rußland zu finden. Ein älterer Bruder war schon dort. In Holland hielt sich damals der in russischen Dienste stehende Vizeadmiral Gruhs auf, um geschickte Leute aller Berufe für Rußland zu werden. Er stieß u.a. auch auf zwei Deutsche, die ihrer Heimat entflohen waren, um in der Fremde ihr Glück zu suchen. Der eine war Wilhelm Tolle, der Sohn eines Professors in Göttingen. Er hatte in Jena studiert und war Rektor in Ilefeld geworden. Warum er geflohen war, ist unbekannt. Der andere war Heinrich Ostermann aus Bochum Gruhs nahm beide mit nach Petersburg. Dort wurde Tolle der erste Prediger der protestantlichen Gemeinde. Der gelehrte Mann, der 14 Sprachen beherrschte, starb schon 1710. Ostermann wurde Sekretär des Admirals. Auch der Resident Weber, der lange „die Ehre eines vertrauten Umganges“ mit Ostermann genoß, berichtete, daß Ostermann durch Gruhs nach Rußland gekommen ist. Von dem Vorfall in Jena schweigt er; er spricht nur von einer Reise Ostermanns nach Holland.

 

Genauer ist der Adjutant des Feldmarschalls v. Münnich, Christoph von Manstein. Er war 1711 in Petersburg geboren und stand lange in russischen Militärdiensten. Nach ihm kam Ostermann 1704 nach Rußland. „Ostermann diente zuerst als Fähnrich auf den Galeeren. Nach einiger Zeit wurde er Leutnant, und darauf nahm ihn der Admiral Gruhs als Sekretär in feine Dienste. Als sich nun einige Jahre nachher Peter I. auf des Admirals Schiffe befand und Briefschaften auszufertigen hatte, fragte er den Admiral, ob er nicht einen Vertrauten habe, der sie schreiben könne. Der Admiral stellte ihm Ostermann vor, der das russische so gut gelernt hatte, daß er es wie seine Muttersprache redete. Da der Kaiser Verstand an ihm bemerkte, nahm er ihn in seine Dienste als Geheimschreiber, macht ihn zu seinem Vertrauten, bediente sich seiner in den wichtigsten Geschäften und erhob ihn in wenigen Jahren zu den höchsten Aemtern des Reiches .

 

Aufstieg zum Staatsmann

 

Russische Politiker und Historiker streiten heute noch darüber, ob die Zeit Peters des Großen für Rußland Segen oder Fluch gewesen sei. „Der westliche Betrachter wird dagegen, und zwar mit den besten russischen Geschichtsschreibern im Wert des Reformators eine schon von der Vergangenheit ihm überkommene historische Notwendigkeit erkennen. Jedoch wird er die Meinung nicht unterdrücken können, daß vieles im Innern allzu überstürzt geschah. Nur der Zwang der äußeren Lage dient hier zur Rechtfertigung“. Der Dorfpater Historiker Brückner, der ausgezeichnete Kenner der russischen Geschichte, meint, Peter habe durch Begabung und Willenskraft das Zeitmaß des Europäisierungsprozesses beschleunigt, nicht mehr. Ein neuer russischer Historiker, Kliutschewski, möchte der durch viele Hände auch auf uns gekommenen Legende Glauben schenken, Peter habe einst die von Ostermann notierten Worte gesagt: „Wir brauchen Europa für einige Jahrzehnte, dann müssen wir ihm aber den H... zukehren“. Auch er sieht die Widerstände, die sich Peters Werk entgegenstemmten. „Die Reform verwandelte sich allmählich in einen harnäckigen inneren Kampf, der den ganzen verschlammten Bodensatz des russischen Lebens aufwühlte.“ Jedenfalls war Peter eine oft unsagbar rohe, zügellose, aber auch eine zielbewußte, gewaltige Herrschernatur. Er bestand, Mitarbeiter großen Maßes zu finden, zu halten und zu stürzen. Es ist nun sehr bequem, aber auch sehr unrecht, die herangezogenen tüchtigen Ausländer, die unter aber nach ihm Rußland eid- und pflichtgemäß gedient und nicht bestohlen haben, unterschiedlos unter der Schlagzeile „ Abenteurer“ aufzuhängen. Heute klebt dem Worte etwas an, das trotz aller Bewegtheit und Menschlichkeit ihres Lebens hier fehl ist: wenigstens sollte man Korn und Kaff auseinanderhalten. Auch Kliutschewski spricht z. B. von Deutschen, die zeitweilig nach Rußland hereinstäubten wie Spreu aus einem zerlöcherten Sack. Er weiß aber auch von Neuankömmlingen, die gebildete und verdienstvolle Männer gewesen seien, die nicht geneigt waren, die Verbindung zwischen ihrer neuen Heimat und der westeuropäischen Welt abzubrechen und der schmarozenden und ungebildeten großen Masse des russischen Hochadels in die Augen stachen. Unter ihnen nennt er auch unsern Ostermann.

 

Peter regierte selbst. Nach den Ablebend des Genfers Lesort und des Schotten Gordon waren seine ersten Mitarbeiter Menschikow und Schassirow, zu denen später Jaguschinski und Ostermann kamen. General b. Manstein, der jahrzehntelang in Rußland lebte und Zeitgenosse Ostermanns war, nennt ihn unstreitig einen der größten Minister seiner Zeit. Brückner hebt hervor, er habe mit einer ungewöhnlich vielseitigen Bildung eine Feinheit des Geistes und eine Geschmeidigkeit des Charakters vereinigt, welche ihn jeder schwierigen Lage gewachsen erscheinen ließen. Auch in russischen Kreisen sei der ungeheure Abstand von der Gleichgültigkeit und Trägheit der russischen Würdenträger zu der phänomenalen Spannkraft des Baron Andrei Iwanowitsch, wie man Ostermann in russischen Kreisen zu nennen pflegte, hervorgehoben worden.

 

Wie urteilen Neuere? Kliutschewski z. B. spricht von einem „großen Diplomaten mit Lakeinenallüren, der in dringenden Fällen nie wußte, was er sagen sollte und darum für undurchdringlich verschlossen galt, und wenn man ihn zur Ansprache nötigte, sofort an einer gehorsam zur Verfügung stehenden Uebelkeit oder Podagra erkrankte oder aber rätselhafte Dinge zu reden begann, daß er sie selber nicht verstand – eine schüchterne und verräterisch-intrigante Natur.“ Er räumt aber ein, daß der russische Hof – nach Peters Zeit – ohne ihn keinen Schritt zu gehen vermochte. Wenn die Verwahrer der vaterländischen Geschickte zusammenkamen und Ostermann sich wegen seiner politischen Krankheit entschuldigte, habe man ein Gläschen getrunken, sei wieder gegangen und habe dann vor den Baron geschwänzelt, „ um die schlechte Laune des Mephistopheles aus Westfalen zu vertreiben. Aber an Ostermann schätzen sie weder dessen Verstand, noch sein Wissen, noch seine Arbeitskraft, sie verachteten ihn als einen Fremdling, sie fürchteten ihn als Intriganten und haßten ihn als ihren Nebenbuhler“. Dem gegenüber hebt Stählin hervor: „Ostermanns Methoden, die ihm die schlimme Charakterisierung als schüchterne und verräterisch-intrigante Natur eintrugen, sind nach Maßstab jener Zeitumstände zu messen, wo jeder dem andern feindselig gegenüberstand und niemand sicher war, ob ihn nicht über Nacht und Blitzstrahl von oben zerschmetterte“. Auch Stählin sagt: „Niemand konnte Ostermann entbehren . . . Seine Bildung und vielseitige Sprachkenntnis, sein Eindringen bis in die Einzelheiten der Geschäfte, seien unermüdlichen Fleiß, mit dem er sich von seinen Zeitgenossen besonders vorteilhaft abhob, seine damals noch seltenere Unbestechlichkeit wird niemand leugnen wollen, ebensowenig seine Hingabe an die neue Heimat.“

 

Ostermanns Ausstieg in Rußland begann in der Zeit des Nordischen Krieges. Im Besitz der Küstenländer und der Städte Wismar, Stalsund, Stettin, Riga und Reval, beherrschte Schweden die Ostsee. Als der 15jährige König Karl XII. den schwedischen Thron bestieg, glaubten Rußland, Polen und Dänemark die Zeit für gekommen, das schwedische Uebergewicht zu brechen. Für Rußland mußte ein Zugang zur Ostsee besonders wichtig sein; bis jetzt war es auf Archangelsk angewiesen. 1703 entrissen die Russen den Schweden die Rewamündung und legten hier den Grund zu der neuen Hauptstadt St. Petersburg. Im nächsten Jahre waren auch Lipland und Esthland in ihren Händen. 1709 wurden die Schweden bei Boltawa entscheidend geschlagen. Karl XII. rettete sich zu den Fürsten. Diese traten bald auch in den Krieg und brachten 1711 am Bruth die Russen unter Peter in eine Lage, die wohl mit einem russischen Sedan geendet hätte. In tiefer Schicksalsstunde benahm sich Peters Gemahlin Katharina wie ein Mann, wie Peter später öffentlich anerkannte. Im Verein mit Schassirow und Ostermann bewog sie den halsstarrigen Zaren zu Verhandlungen mit dem türkischen Großvezier, die ziemlich glimpflich für Peter ausliefen. Wie weit dabei Geld nachgeholfen hat, ist nicht ganz klar. Damals machte Ostermann sein diplomatisches Gesellenstück.

 

Der Türkenkrieg fiel ungefähr in die Mitte des nordischen Ringes. Nach der vollen Unterwerfung der baltischen Provinzen, denen die alten Privilegien belassen wurden, kam bald auch ganz Finnland mit den Aylandsinseln in Peters Gewalt. 1714 verbürgte Preußen den Russen Esthland, Ingermanland und Karelien, wofür ihm Pommern bis zur Beene und Stettin zugesichert wurde. Das war das Jahr, in dem Karl XII. aus der Türkei wiederkehrte. Noch einmal leuchtete sein Name zu kurzem Glanze auf. Aber schon 1716 fiel Wismar, der letzte schwedische Posten auf deutschem Boden.

 

Mählich sahen die beiden großen Gegenspieler doch ein, daß Verhandlungen irgendwie einen 20jährigen Kriegszustand beenden müßten. Man einigte sich auf die Aylandsinseln als Ort der Besprechungen. Als Unterhändler bestimmte Schweden neben Gyllenborg den Baron Schlitz-Görtz, den besonderen Vertrauensmann Karls XII. Rußland benannte neben dem Generalfeldzeugmeister Bruce den Geheimrat Ostermann; Peter wird gewußt haben, warum.

 

Die russischen Bevollmächtigten hatten Weisung, nötigenfalls das als Faustpfand geltende Finnland aufzugeben, aber Ingermanland, Livland und Esthland nebst den Städten Reval und Wiborg festzuhalten. England bohrte damals bei den Schweden immer mit der Befürchtung, Rußland, im Besitz von Reval und Riga, werde Schweden und Dänemark einmal ganz von der Ostsee ausschließen. Ostermann, der König Karls Haß gegen England-Hannover zu gut kannte und den auch Peter teilte, hielt entgegen: „O, man erkennt die Nation, die ihrer Handelsvorteile wegen gern die Welt in Flammen setzte. Und wir wollten uns für sie aufopfern? Was würde uns unser Petersburg nützen, wenn die Schweden Meister des ganzen Petersburger Fahrwassers bleiben?“ Ueber allerlei Vorgeplänkel kam man sich näher. Ostermann konnte erklären, Rußland wolle Schweden für seine Opfer schadlos zu halten behilflich sein. Diese Schadloshaltung sollte im dänischen Machtbereich gefunden werden. Ostermann bewog Peter, Karl freie Hand zu lassen, Dänemark zur Räumung Pommerns, zur Befriedigung des Herzogs von Holstein und zu Gewinn in Norwegen zu zwingen. Aber weil Rußland nicht unmittelbar behilflich sein wollte, drohten die Verhandlungen zu scheitern. Den Schweden erschien ihr Unterhändler, Baron Görtz, zu nachgiebig. Ja, man schmähte ihn als erkauften Verräter. Wie Ostermann seinem Herrn mitteilte, warf man Görtz sogar vor, geraten zu haben, Stockholm zu überrumpeln. Tatsache wird sein, daß Geld auch bei diesen Verhandlungen eine gewisse Rolle gespielt hat. Geld und Geldeswert hat schon oft an einem Nein vorn und hinten genagt, so daß ein Ei übrig blieb, aus dem ein freundlich-friedliches Küken kam. Jedenfalls hat Ostermann damals Peter geschrieben, er habe Görtz, als er wieder mal nach Stockholm zur Rücksprache reist, gesagt, er könne auf den besten Zobelpelz rechnen, der im russischen Reiche zu finden sei, und daß bis zu 100 000 Tlr. zu seiner Verfügung seien, wenn das Friedensgeschäft ein glückliches Ende nehme. Zur Ehre Ostermanns muß aber auch angefügt werden, daß er mit den ihm zur Verfügung stehenden Geldern nicht seine eigene Ehrlichkeit überfahren hat. „Er sah die Dürftigkeit der schwedischen Minister, und so konnte er mit den ihm anvertrauten Dukaten so sparsam und klug umgehen, daß er mit 10 000 Stück die Absicht seines Monarchen erreichte und diesem 90 000 zurückbrachte.“

 

Ende Dezember 1718 traf Karl XII. bei der Belagerung der Feste Friedrichsball an der norwegischen Grenze eine tödliche Kugel. Dem nach Stockholm zurückgeeilten Görtz machten die Schweden den Prozeß. Zwar hatte die Umsicht Ostermanns bei der Tollkühnheit des Schwedenkönigs auch dessen plötzlichen Tod in seine Verrechnungen einbezogen. Aber seine Annahme, die Schweden würden eher die baltischen Lande verschmerzen als die deutschen Besitzungen, war fehl. In Schweden war Karls jüngere Schwester, Ulrike Eleonore, auf den Thron gekommen; sie war vermählt mit Prinz Friedrich von Hessen. An Görtzens Stelle wurde Baron Lilienstedt zum Unterhändler bestellt. Ostermann holt sich neue Weisungen und eilte ungesäumt zurück. Mit ihm erschien der preußische Unterhändler v. Mardefeld. Darüber zeigte sich Schweden reichlich erstaunt; andere wunderten sich, daß Lilienstedt mit seiner Ankunft so zögerte. Rechnete man etwa auf England? Georg von Hannover-England hatte als erster seine Sache mit Schweden ins reine gebracht. Die Russen griffen wieder zur Gewalt und warfen sengende und brennende Truppen an die schwedische Küste; die Dänen drängten am Kattegatufer. Als Ostermann mit den alten Vorschlägen in Stockhholm erschien und für den Weigerungsfall harte Möglichkeiten androhte, stieß er auf hartes Nein. Die Verhandlungen auf Anland flogen auf.

 

Mittlerweile kam Schweden zu Einzelfrieden mit Preußen, Polen und Dänemark. Im Lande selbst litt es arg unter Parteikämpfen, die niemand aufmerksamer verfolgte als Ostermann. Hannover hatte Schweden zwar Hilfe versprochen; aber sie wurde nur wirksam durch die Hetze der Gesandten an verschiedenen Höfen. England zeigte sich wegen der etwa kommenden Seegeltung Rußlands mehr und mehr „besorgt“; doch auf einen wirklichen Krieg wollte es diese Macht nicht ankommen lassen. Zwar erschien in drei Sommern hintereinander die englische Flotte in der Ostsee. Trotzdem wiederholten sich noch zweimal die verheerenden Einfälle der Russen in Schweden. Sie sollten den in Anstadt wieder aufgenommenen Friedensverhandlungen wirksamen Nachdruck verleihen. Die Russen ließen verschiedene Ansprüche fallen, bestanden jedoch auf Abtretung Revals, obwohl sich Schweden auf englischen Druck dagegenstemmte. Als es endlich doch Reval preisgab, hielt es um so stärker an Wiborg fest. Ostermann hatte irgendwie erfahren, daß man notfalls auch diese fallen lassen werde. Der Zar war geneigt zu verzichten, damit desto schneller Friede werde. Voller Ungeduld schickte er seinen Adjutanten Jaguschinski mit der Vollmacht zum Verzicht. Ostermann, der Jaguschinskis Ehrgeiz voraussah, eigentlicher Friedenvollender zu werden, hatte den General Schumalow in Wiborg zu bestimmen gewußt, Jaguschinski möglichst lange aufzuhalten und ihn sofort zu benachrichtigen. Schumalow hielt auch wirklich Jaguschinski zwei Tage in Wiborg bei sich und gab Ostermann Nachricht. Unterdessen eröffnete Ostermann den Schweden, er wisse um den Befehl, in 24 Stunden zu Rande zu kommen ober – abzubrechen. Da gaben die Schweden auch Wiborg preis. Als Jaguschinski ankam, war der Friede gerade fertig; es blieb ihm nur übrig, sich über den Erfolg mit zu freuen. Er hat Ostermann nie verzeihen können, das er ihm diesen Streich spielte. General von Manstein erzählt, Ostermann habe immer wieder darauf gedrungen, an dem so wichtigen Wiborg festzuhalten. Er habe seinen Kopf zu Pfand gesetzt, die Schweden würden nachgeben. „Man sagt, er hätte das Vermöge der Verräterei eines schwedischen Gesandten sicher gewußt, der sein Geheimnis für 80 000 Rubel verkauft hätte.“ Büsching gibt im historischen Magazin nur 10 000 Dukaten an. Sei ihm, wie ihm wolle – die Behauptung eingeschlossen, das Ostermann bei Verhandlungen wohl den Betrunkenen gespielt und sich den schwedischen Gesandten Federkreuz durch Rückgabe livländischer Familiengüter geneigt gemacht habe – man darf mit Brückner wohl sagen, das Ostermann die russischen Belange mit Zähigkeit und Nachdruck nicht ohne eine gewisse Verschlagenheit vertreten hat. Und später war lange noch, wenn etwas gegen Ostermann gesagt wurde, trumpft daraus der Friede von Anstadt, an dem man ihm die ganze Ehre geben wollte. Der Friede von Anstadt (1721) brachte Rußland Livland, Esthland, Ingermannland, einen Teil Kareliens, Kerholm und Wiborg. Es gab Finnland zurück und zahlte den Geldarmen Schweden außerdem noch 2 Millionen Tlr.. Gustav Adolf hatte einmal gesagt, es werde den Russen kaum gelingen, die Ostsee zu überschreiten, „Über diesen Bach zu springen“. Jetzt war es geschehen. Schweden war eine Macht minderen Grades geworden. 20 Jahre später machte es zweimal den Versuch, das Verlorene wieder zu gewinnen, vergebens. „Hätte die Schweden mir den Frieden zu machen überlassen“, äußerte Peter damals gegenüber den General von V. Münnich, „Sie würden besser gefahren sein als jetzt. Nun es aufs Negoziiren ankam, habe ich sie den Kunstgriffen meiner Minister preisgegeben“. Seinen beiden Ministern schrieb er: „ihr habt einen Fraktat vollendet, der, hätten wir ihn selbst aufgesetzt und den Schweden zur Unterschrift zu geschickt, nicht besser sein können... noch nie erhielt Rußland einen so vorteilhaften Frieden.“ Bald nach dem Anstädter Frieden nahm Peter Rang und Titel eines Kaisers an. Damit war hinlänglich angedeutet, welches Verhältnis Rußland von nun an zu den europäischen Mächten zu behaupten gewillt war. Die erste Macht, die den neuen Kaiser als solchen anerkannte, war – Preußen. Ostermann, der geheime Rat von der Kanzlei, wurde in Anerkennung seiner Verdienste zum Baron erhoben und bekam Generalmajors Rang. Einen weiteren Beweis der Dankbarkeit des Kaisers, aber auch wohl des Bestrebens, den gewandten Diplomaten endgültig an Rußland zu ketten, darf man wohl in der Verheiratung Ostermanns mit einer Strechnew erblicken; das vornehme Geschlecht hatte schon mal eine Zarin gestellt.

 

Als Peter der Große 1723 den bisherigen Vizekanzler Schassirow in die Verbannung schickte, vertrat vorerst Ostermann dessen Stelle. In diesem Jahre unterzeichnete er den Vertrag mit Persien , der als Frucht eines Feldzuges Rußland verschiedene Provinzen und Städte am Kaspisschen Meere einbrachte, den russischen Handel sichern und eine Handhabe gegen die Türken ermöglichen sollte. Bemerkenswert ist, das Ostermann dabei erstmals mit dem Vornamen Andreas unterschrieb. Das hat manchen, u. a. auch Dr. Kortum, anlaß zur Behauptung gegeben, Ostermann sei zur russischen Kirche übergetreten. Das ist irrig. Im allgemeinen konnten Ausländer zu damaliger Zeit bei heiraten ihre Religion bei behalten; die Kinder wurden aber der russische Kirche zu geführt. Peter hatte Ostermann mit einer Russin von Rang und Vermögen verheiratet, „doch blieb er noch immer lutherisch“. Auch Hempel betont, „Der Herr Graf sei niemals abgefallen. Wie ihm eigens aus Petersburg versichert worden sei“. Dr. Lemmerich, Lehrer der Petersburger deutschen schule erklärt, die Meinung von dem Glaubenswechsel sei nicht richtig. Vom Tage seiner Ankunft an sei Ostermann Mitglied der Lutherischen Gemeinde gewesen. Die Russen hätten den Namen Heinrich nicht und setzten bei Ausländern an dessen Stelle gewöhnlich den Namen Andreas. Das Ostermann immer Protestant geblieben, gehe aus dem Abendsmahlregister des Pastors Nazzius hervor, das bezeuge, am 22. Dezember 1741 habe Graf Ostermann das Abendmahl empfangen. Nach Hempel hat Ostermann in der lutherischen Peterskirche in Petersburg auch einen eigenen Stuhl gehabt und oft den Predigten angewohnt. 1728 bedankte sich der Kirchenrat bei Ostermann dafür, das er das Bittgesuch an den Kaiser, das Grundstück für die Kirche zu schenken, so tatkräftig unterstützt habe. Als der Gemeinde beim Kirchbau das Geld ausging, vermittelte Ostermann eine Kaiserliche Spende von 1 000 Rubel. Ferner steht fest, das Ostermann nicht nur bei Ausländischen Gesandten die Geldsammlung für die neue Peterskirche unterstützte, sondern auch mit General Münnich in der Kirchlichen Gemeindeverwaltung tätig war.

 

1724, ein Jahr vor seinem Tode, reiste Peter nach Moskau, um in der alten Hauptstadt seine Gemahlin Katharina zur Kaiserin krönen zu lassen. Gar gewissenhaft wird uns berichtet, das Ostermann bei der Feierlichkeit auf der vierten Thronstufe gestanden und den Rang eines Generalleutnants erhalten habe, wie zum folgenden Jahre bemerkt wird, beim Leichenbegängnis Peters des Großen habe er neben drei anderen russische großen einen Zipfel des Sargtuches gehalten. Noch auf seinem Sterbebett hatte Peter den seinen Ostermann als einen Bedienten empfolen, den er selbst unter diesen und der also quid faciendum a faciente gelernt hätte, der folglich auch das wahre Interesse seines Reiches am besten kenne und dem selben unentbehrlich sei. Das war der selbe Zar, der von dem selben Ostermann dem Residenten Weber gegenüber geäußert hatte, das er in den Pflichten seines Ostermann noch niemals einen Fehltritt gespürt habe.

 

Der arbeitsfrohe Vizekanzler

 

Peter hatte die Bestimmung hinterlassen, daß zukünftig jeder Herrscher seinen Nachfolger nach Gutdünken bestimmen könne. Er selbst war nicht mehr zur Regelung seiner Nachfolge gekommen. Nach seinem Tode stritten zwei Gruppen um Vorherrschaft. Die der jungen Vögel, wie Peters Geholfen genannt wurden, siegte über die altrussische. Ostermann war daran nicht ganz unschuldig, wenn er sich auch zurückhielt. Peters Gemahlin Katharina wurde auf den Thron erhoben. Das hatte sie hauptsächlich Menschikow, Peters vertrautestem Helfer, zu verdanken. Nun wurde seine ehemalige Buhle seine Puppe, die bald nur tat, was und wie er wollte. Zu den ersten Regierungshandlungen Katharinas gehörte, die Begnadigung Schassirows. Ostermann fürchtete, Schassirow werde wieder Kanzler werden. Um den gefährlichen Nebenbuhler nicht in den Weg zu kommen, bat er fünfmal um Entlassung. Aber Schassirow bekam nur die Leitung des Handelskollegiums. Ostermann wurde wirklicher Vizekanzler. Peters leitender Senat wurde einem Geheimen Rat von 7 Mitgliedern untergeordnet, in dem Ostermann anfangs der einzige Nichtrusse war.

 

Menschikow war der eigentliche Machthaber. Die Russen glaubten vielfach, Katharina werde ihn noch einmal heiraten und zum Zaren machen. Schreiben hatten Kaiserin und Günstling nicht gelernt, beide konnten nur ihren Namen kritzeln. Katharina ließ ihre Unterschrift gern durch ihre Tochter Elisabeth vollziehen, nach andern wohl auch durch Ostermann. Nach Lage der Dinge blieb Ostermann nur übrig, den Machthaber zu ertragen – bis auf weiteres. Angelegenheiten wurde er immer unentbehrlicher. Vorübergehend wurde Ostermann auch mit inneren Staatsangelegenheiten befaßt. So war er beteiligt bei der Gründung und dem Ausbau der Akademie der Künste und Wissenschaften, die 1725 ihre erste Sitzung halten konnte. Im folgenden Jahre finden wir ihn bei der Neuregelung des Postwesens. Manche Maßnahmen lassen erkennen, daß er Rußland „kleiner“ und die Postverwaltung „reiner“ machen wollte. Auf sein Betreiben wurde Petersburg mit Archengelsk, der damals so wichtigen Hafenstadt im Norden, durch eine zuverlässige Post verbunden. Das Porto von Petersburg bis Memel wurde beträchtlich herabgesetzt. Als er auch für das Porto nach Archangelsk mäßige Sätze vorschlug, hob er hervor, daß damit für den Anfang wohl Verluste entstehen können; doch werde der Handel bald gewinnen, volkswirtschaftliche Vorteile gingen geldlichen vor. Ostermann war auch Vorsitzer eines Ausschusses, der Mittel zum rascheren Ablauf de Innenhandels finden sollte. Eine Frucht der Beratungen war eine neue Wechselordnung. Für die Garnindustrie wurden die Ausfuhrzölle auf weniger als ein Siebtel erniedrigt. Der Handel mit sibirischen Pelzwerk und mit Tabak und Salz wurde freigegeben. Im Petersburger Hafen verschwanden lähmende Monopole. Am Neujahrstage 1727 zeichnete Katharina den schaffensfreudigen und umsichtigen Staatsmann mit dem Andreasorden aus, dem höchsten Orden Rußlands.

 

Einige Monate später lag die Kaiserin auf dem Sterbebett. Eine unweibliche und rohe Lebensart rächte sich. Nun stand man wieder vor der Frage der Nachfolge. Mit anderen stellte auch Ostermann fest, daß für Katharinas Töchter Anna und Elisabeth wenig Meinung bestand. Erstere war mit einem Herzog von Holstein verheiratet und hatte auf Thronansprüche Verzicht leisten müssen. Elisabeth war mit einem Vetter des Holsteiners verlobt. Weite und einflußreiche Kreise sahen in den zwölfjährigen Großfürsten Peter, dem Sohne des unglücklichen Alexei, der im Gefängnis gestorben war, den am meisten berechtigten Thronerben. Alexei war der Sproß aus der ersten Ehe Peters des Großen mit der ins Kloster gesteckten Eudokia. Ostermann, um seine Meinung befragt, hatte eindringlich dargelegt, daß der jung Großfürst nicht zugunsten einer seiner Tanten ausgeschaltet werden könne. Menschikow, der anfangs andere Pläne verfolgte, erreichte daß Katharina ihr Zustimmung gab, demnächst den jungen Peter mit einer seiner Töchter zu verheiraten. Bei der Allmacht Menschikows war nun die Thronfolge keine Frage mehr. Als Katharinas Zustand bedenklich wurde, dachte man auf Abfassung eines Testaments. Baffewitz, der Minister des Holsteiners, soll es verfaßt und die Prinzessin Elisabeth im Auftrag der sterbenden Kaiserin unterschrieben haben. Auch Manstein erwähnt, daß Elisabeth das Testament unterschrieben hat, obwohl im Sitzungsbericht des Geheimen Rates ausdrücklich gesagt wurde, die Kaiserin selbst habe unterschrieben. Die Echtheit des Testaments konnte daher später bezweifelt werden, die Tatsache der amtlichen Veröffentlichung aber nicht. Als erbberechtigt erklärt wurden mit ihren Nachkommen der Großfürst Peter, die Prinzessinnen Anna und Elisabeth und Natalie, die Schwester des Großfürsten. Diese Ordnung war als unabänderliches Grundgesetz gedacht und stieß damit die Bestimmung Peters des Großen um. Jedenfalls ist dieses Testament, von dem gleich bei der Veröffentlichung das Gerücht einer Fälschung ging, Ostermann nach wenigen Jahren sturzgefährlich geworden. Menschikow nahm alsbald das volle ansehen eines Regenten in Anspruch. Ostermann wurden die schwierigsten Aufgaben zugeschoben. Schon zu Lebzeiten der verstorbenen Kaiserin war er zum Oberhofmeister des kleinen Peter ernannt worden. Nun nahm er sich des jungen Kaisers so väterlich an, daß es ihm bald gelang, seine volle Zuneigung zu gewinnen. Die von Ostermann verfaßte Einrichtung der Studien Peters des Andern zeugt von einer wirklich weitgreifenden Bildung des hochbegabten Mannes. Er entwickelte, wie ein demnächstiger Herrscher zu unterweisen sei über Staatsgeschichte, allgemeine Regeln der Staatsklugheit, Kriegskunst, alte Historie, Arithmetik, Geometrie und Trigometrie, Weltbeschreibung, physikalische Wissenschaften, bürgerliche Baukunst und galante Wissenschaften (Wappenkunde, Genealogie, Altertumskunde). Zuletzt wird für fünf Wochentage, halbjährlich wechselnd, ein genauer Stundenplan vorgelegt. Die Vorschläge zur religiösen Erziehung verfaßt der Nowgoroder Erzbischof Theophanes. Menschikow aber bestellte bald einen jungen Angehörigen des Geschlechts der Dolgoruki um Hofmeister, und der, einer der liederlichsten Patrone bei Hofe, gewann auf dem ohnehin leidenschaftlichen und eigensinnigen jungen Kaiser einen unheilvollen Einfluß. Ostermann suchte dem zu begegnen durch die Einwirkung der Schwester Natalie, vergebens. Machte Ostermann väterliche Vorstellungen, so konnte der kaiserliche Knabe zum Weinen gerührt werden – bis morgens. Dann wurde alles in wildem Jagdvergnügen wieder vergessen.

 

Menschikow wurde immer anmaßender. Alles beugte sich vor ihm. Jede nur irgendwie unbequeme Größe wurde von Petersburg entfernt. „Nur Ostermann wußte sich bei allen Stürmen zu behaupten. Wiewohl Menschikow ihn gern von der Person des Monarchen losgemacht hätte, um noch unbedingter über diesen verfügen zu können, so war er ihm andererseits doch zu unentbehrlich, als daß er ihn gerade vor den Kopf stoßen durfte. So kam es, daß der Vizekanzler, weil er es sich nie einfallen ließ, im eigenen Namen zu gebieten, weil er seinen persönlichen Ehrgeiz nur darein setzte, über die allgemeinen Interessen und das, was notwendig geschehen mußte, seine Hand zu halten, durch seine ungemeine Schmiegsamkeit und politische Voraussicht doch immer der Ereignisse Herr blieb und im Grunde der Dinge im letzten sie leitete“.

 

Der junge Kaiser wurde zwar mit einer Tochter Menschikows verlobt, doch bedeutete sie ihm nicht Besonderes. Bald erfuhr die Prinzessin Elisabeth mehr Aufmerksamkeiten als die Braut. Weil Menschikow mehr und mehr seine Macht fühlen ließ und die Habsucht sich sogar an kaiserlichen Geschenken vergriff, fing Peter an, seien zukünftigen Schwiegervater zu hassen. Eines Tages erklärte er Ostermann, er wolle nun doch endlich zeigen, wer eigentlich Kaiser sei. Von nun an sollten nur von ihm unterfertigte Befehle gelten. Menschikow bekam Hausarrest. Das bedeutete den Anfang vom Sturz. Frau und Kinder des Gewaltigen flehten um Gnade beim Kaiser, bei seiner Schwester, bei Elisabeth, vergebens. Frau Menschikow, übrigens eine sehr achtbare Persönlichkeit, warf sich nun Ostermann zu Füßen und bat fast eine Stunde lang um seine Vermittlung, der Vizekanzler blieb hart. Der unersättliche Machthaber wurde nach Sibirien verbannt; in Beresow starb er schon 1729. Man vergaß daß Menschikow trotz allem auch seine Verdienste um Rußland hatte, und wußte nur noch von verbrechen und Torheiten. Seine Gemahlin begleitete ihn aus freien Stücken nach Sibirien, weinte sich blind und endete schon auf der Ausreise in Wahnsinn. Zweifellos wird Ostermann an Menschikows Sturz so oder so beteiligt gewesen sein. Er sah die Dinge bei diesem Regiment und dieser Habgier zu gut kommen. Er wußte auch zu gut daß er dem Fürsten Menschikow mehr und mehr im Wege stand und einer von beiden eines Tages mit der üblichen Plötzlichkeit erledigt sein werde. Noch kurz vor Menschikows Sturz hatte es bei Hofe einen bezeichnenden auftritt gegeben. Um Ostermann den Hals zu brechen, hatte Menschikow hingeworfen, Ostermann suche den jungen Kaiser zu einer fremden Religion zu pressen. Leidenschaftlich drohte er im Laufe der Auseinandersetzung, er werde Ostermann rädern lassen. Wenn der Westfale darauf erwiderte, seiner Handlungen wegen werde er nie gerädert werden, wohl kenne er einen, dem das leicht begegnen könne, so sprach daraus nicht nur das gut Gewissen, sondern auch die gegründete Zuversicht aus der Kenntnis dessen, was sich vorbereitete.

 

„Bei allen Revolutionen“, berichtete der sächsische Gesandte anfangs 1730, „hat man die Gewandtheit und Geschicklichkeit des Baron Ostermann bewundern müssen, namentlich aber jetzt bei dem Sturz Menschikows hat er durch seine außerordentliche Klugheit und die fortwährende Aufmerksamkeit für die Person seines Herrn und für das öffentliche Wohl sich das größte Verdienst erworben“. Nun war die Frage für Ostermann, welche von den um den Vorrang streitenden Gruppen das Uebergewicht erhalten könne und wie er sich etwa kommenden Dingen gegenüber einzurichten habe. Die Richtung Dolgruki, aus der der junge Iwan der ständige Gesellschafter Peters war, wurde bald deutlich. Es war zu bekannt, was Ostermann für den jungen Kaiser bedeutete, er sollte entfernt werden. Der Wortführer der Dolgorukis drohte Ostermann bei einem heftigen Wortwechsel Tod und Verderben an; da wußte der Vizekanzler, wessen er sich zu versehen hatte. Er fand eine feste Stütze an dem Grafen Münnich. Zustatten kam ihm auch, daß die Dolgorukis sich bald veruneinigten. Aber im Haß gegen alle Ausländer waren sie eins.

 

Als der Hof wegen der Krönung des jungen Peter von Moskau verlegt worden war, sah sich Ostermann zwischen den Dolgorukis und den Altrussen. Wenn auch vorerst die Dolgorukis das Spiel gewonnen zu haben schienen, Ostermann konnte warten, „Er schritt seinen gewohnten Gang, man konnte ihm nicht vorwerfen“. Es entging ihm zwar nicht, wie die Altrussen in Moskau immer mehr Boden gewannen. Darum drängte er auf Rückkehr nach Petersburg, stieß jedoch auf zu starken Widerstand. Die Dolgorukis suchten es bald wie Menschikow zu treiben, und darauf gründete Ostermann sein Zukunftsbild. In all den Wirren bildete der unentwegt arbeitenden Mann, der zu schweigen verstand, ein Orakel, dem auch seine Gegner wegen seines klugen und besonnenen Benehmens Gerechtigkeit widerfahren lassen mußten. „Zwischen allen steuert Ostermann seine Barke mit wunderbarer Geschicklichkeit hindurch, geachtet von Großen und Geringen, und es scheint sogar, daß auch die herrschende Familie fühlt, daß sie Ostermanns Ratschläge nicht entbehren kann“, berichtete Le Fort nach Dresden. Der frühe Tod der Schwester des jungen Kaisers, mit der so viele Ausländer viel Schutz verloren, mit der auch Ostermann für sich erheblichen Einfluß schwinden sah, beeindruckte ihn so, daß er angesichts der gesamten Lage ernstlich an Entlassung dachte. Der junge Kaiser war einmal wieder verlobt worden, diesmal mit einer Dolgoruki. Pater Dolgoruki wunderte sich, daß Peter schon so bald solche Kälte gegen seine Tochter bewies. Er fand auch, daß Peter nun wieder mehr bei Ostermann war. Ja, gar des Nachts schlich er sich zu seinem väterlichen Ratgeber, um sein Herz auszuschütten. Die Dolgorukis mochten ahnen, was sich vorbereitete, und drängten auf baldige Hochzeit. Da bekam Peter die Blattern. Ostermann wich nicht von seiner Seite. Es gelang ihm, die Trauung, die die Dolgorukis noch auf dem Sterbebett vollzogen haben wollten, wenigstens hinauszuschieben. Als Peter der Krankheit erlag, war er gut 14 Jahre alt. Sein jäher Tod, meinte man in Ausländerkreisen, habe Ostermann davor bewahrt, ein Opfer der Ränke der Dolgorukis zu werden.

 

 

Auf der Höhe des Schaffens

 

Beidem unvermutet frühen Ende Peters II. waren keinerlei Abmachungen für die Thronfolge getroffen. Nun würgte wieder ein Kampf den andern. Fünf Gruppen lagen sich in den Haaren. Ostermann war vom Sterbehaus sofort heimgegangen und schützte Krankheit vor, um bei den Hofstürmen weit genug fort zu sein. Was werden sollte, wußte so recht niemand. Der Vater der Kaiserbraut wollte durchdrücken, daß die Verlobte des verblichenen Kaisers die Krone erhalte. Dem Widersprach jedoch ganz entschieden sein Vetter, der Feldmarschall Dolgoruki. Solange noch ein Glied der Zarenfamilie lebe, werde er nicht dulden, daß ein Dolgoruki nach der Krone lange. Das konnte Ostermann bei der Stellung der Dolgorukis zu ihm nur recht sein. Nun schlug Fürst Golizyn die Herzogin Anna von Kurland vor. Sie war eine Tochter Iwans V., eines Halbruders Peters des Großen, der als Mitherrscher 1689 abgedankt hatte. Anne hatte den Herzog Friedrich Wilhelm von Kurland geheiratet und war sehr früh Witwe geworden. Maßgebende Große traten diesem Vorschlag bei. Ohne Familienrückhalt und ohne politisches Gewicht, erschien sie ganz geeignet, eine Herrscherin mit beschränkten Rechten abzugeben, bei der – nach politischem und schwedischem Vorbild – mitzuregieren sei. Als Ostermann um seine Meinung befragt wurde, wies er auf die Prinzessin Elisabeth als nächstberechtigte hin. Nachdem der Feldmarschall Dolgoruki dargelegt hatte, weshalb man sie nicht berücksichtigen könne, erklärte er sich einverstanden, lehnte aber die Abfassung der Wahlartikel ab, weil er doch Ausländer sei. Das wollte man nicht gelten lassen, da zog er sich auf seine Krankheit zurück. Er vergewisserte sich dann genau über die Stimmung beim Adel und beim Militär und richtete danach seine Pläne ein. Es gelang ihm auch, Anna die Verfügung über einige Regimenter in die Hand zu spielen und sie über alle Umstände auf dem Laufenden zu halten. Auch Jaguschinski hatte sie benachrichtigen lassen, nicht allem zu glauben, was man ihr vorlegen werde. Inzwischen bildete sich in Moskau eine starke Gruppe für Beibehaltung des alten Regiments, die täglich an Boden gewann.

 

Anna wurden acht sehr einschränkende Wahlbedingungen vorgelegt. Sie unterschrieb und kam nach Moskau. Als sie den Geheimen Rat empfing, fehlte Ostermann wegen Krankheit. Nun folgten Tage schwerer Spannungen. In einer Adelsversammlung erklärte der Fürst Tcherkaski, die Nation sei vom Rat nicht befragt worden, Offiziere der Garde verlangte lärmend Selbstherrschaft, und Anna, die mehr wußte, als den Machthabern lieb war, zerriß die Wahlbedingungen und trat als Selbstherrscherin die Regierung an. Ostermann hatte zu viel Kenntnis der russischen Zustände und zu viel politische Einsicht, um nicht die gänzliche Unhaltbarkeit einer beschränkten Regierung einzusehen. Dabei wäre das Aufkommen der geplanten Vielherrschaft dazu noch von so ausgesprochenen Altrussen, für ihn und die Ausländer der Anfang vom Ende geworden.

 

Um einen zu schroffen Übergang von den Verfassungskämpfen zu ruhigerer Zeit zu vermeiden, riet Ostermann der Kaiserin, den Geheimenrat aufzugeben und wieder einen Senat wie zu Peters I. Zeiten einzurichten. Seine 21 Mitglieder traten aber gegen das Kabinett der drei Minister Kolowkin, Tcherkaski und Ostermann stark in den Hintergrund. An den Sitzungen dieses Kabinetts nahm bald auch der Generalfeldzeugmeister Graf Münnich teil. Ostermann hielt sich zwar zurück, er war aber doch der geheime Rat der Kaiserin, zu der sein Bruder Johann Christoph Dietrich, mecklenburgischer Gesandter, und die Herzogin von Mecklenburg, Annas Schwester, die Mittler machten.

 

Anna traute ihren Russen nicht gar sehr und stürzte sich mehr auf Ausländer, vor allem auf Deutsche, dabei nicht zuletzt auf Balten. Sie hatte aus Nitau ihren Sekretär und Kammerjunker Johann Biron mitgebracht, der zum Oberkammerherrn auf stieg. Sein eigentliches Staatsamt bekam er zwar nicht, obwohl er bald in einem Maße tonangebend wurde, daß die russischen Geschichtsschreiber Annas Zeit als die Zeit des Bironismus bezeichnen. Nicht ohne gewisse Fähigkeiten, mischte er sich mit der Zeit in ungefähr alle Staatsangelegenheiten. Dabei spielte er wohl oft ein Zug mit, den Stählin bei den Balten aus de Rassenverschiedenheit herleitet: Verachtung alles russischen Wesens. Man hat ihn mit dem Wort zu kennzeichnen versucht: „Sprach er von Menschen, so redete er wie von Pferden; sprach er von Pferden, so redete er wie von Menschen“. Biron war Herr über Herz und Willen der Kaiserin. Auch Männern wie Ostermann und Münnich blieb er vorerst nur übrig, sich in die Umstände zu schicken, zu mal Biron einfach, daß beide unentbehrlich waren. Wie Anna, bangte auch Biron stets um Sicherheit. Wer gefährlich erschien, kam nach Sibirien. Zum Stolz eines Emporkömmlings gesellte sich die Raffsucht. Der Oberkammerherr mußte unglaubliche Geschenke auf sich zu lenken. Mit dem jüdischen Hofbankier Siepmann teilte er sich in die Ergebnisse nichtswürdiger Erpressungen und der Erschwerungen des Handels. Kein Wunder, daß nach seinem Sturz in seinem Hause Werte in Höhe von 14 Millionen vorgefunden wurden, abgesehen von Gütern, die er sich außerhalb Rußlands erworben hatte.

In dieser Hinsicht stand Biron in stärkstem Gegensatz zu Ostermann, von dem es gerade hieß: „Er ist nicht Geldgierig; denn in Betracht der vielen Gelegenheiten, die er gehabt hat, ist er arm“. Anna beschenkte Ostermann, 1730 bei Annas Krönung Graf geworden, mit einem ansehnlichen Gut in Livland. Als die Dolgorukis gestürzt waren, bot ihm die Kaiserin mehrere der eingegangenen Güter dieser Familie an. Allein Ostermann lehnte ab. Er verfügte also nicht über den sprichwörtlichen russischen Reichtum, hielt aber das seine scharf zusammen, so das er in den Ruf eines Knickerers kam. Das deutet auch Kortum an. „Es ist zu vermuten, das er geizig gewesen ist; denn als die Teilung seines elterlichen Nachlasses, welcher ziemlich ansehnlich war, in Bochum geschah, ließ er sich sein Erbportion nach Rußland schicken, ungeachtet er gebeten wurde, seinen Anteil entweder der Kirche oder seinen Anverwandten zu schenken“.

 

1730 berichtete der sächsische Gesandte nach Hause: „Auf Ostermann setzte ich großes Vertrauen; die große russische Staatsmaschine beruht größten Teils auf ihm, er ist der einzige Unbestechbare“. Und das zu einer Zeit, als Geld, viel Geld wollte, Diplomatenberge und –täler zu bewältigen und Ostermann selbst nicht selten damit arbeiten mußte. Vom russischen Kabinett ging das Scherzwort um, Ostermann sei seine Seele, der Dicke Tscherkaski sein Körper; seine Mitminister traten eben dem Westfalen gegenüber ganz zurück. Sollten die Pläne Peters des Großen weiter geführt werden, so war Moskau, herz und Sinnbild Altrußlands, durch aus ungeeignet, Sitz der Regierung zu sein. Für das Maß russischen Einflußes in Europa stand dort zu viel auf dem Spiel. Ostermann und Münnich rasteten nicht, bis Anna 1732 die Residenz wieder nach Petersburg verlegte. Bezeichnend für Ostermanns Absichten war auch, das er sich der Universität Dorpat annahm und sie fast neu wieder herrichtete. Jeder, der in Rußland zu einem höheren Amte kommen wollte, sollte dort wenigsten zwei Semester studiert haben.

 

Neben Münnich traten am Hofe im Verbund der Ausländer die beiden Löwenwolde hervor, die aus Livland stammten. Der eine war Oberhofmarschall, der andere Oberstallmeister. Während ich das Verhältnis Ostermanns zu Münnich zeitweilig stark abkühlte, blieb es zu den Löwenwolden viel gleichmäßiger. Anna hielt große Stücke auf sie, und das wußte Ostermann wohl zu nutzen. Als der Oberstallmeister 1735 starb, verlor er seine starke Stütze. Sonderbar, das gerade dieser Löwenwolde, ohne es zu ahnen, einen Mann in die Gunst der Kaiserin brachte, der Ostermann und allen Deutschen später fast den Untergang gebracht hätte: Wolinski. Der russische hohe Adel aber sah sich mehr und mehr ausgeschaltet. Viele wurden verband, andere endeten unter dem Beil. Am meisten geschwächt wurde die Familie Dolgoruki. Ein beliebtes Mittel waren auch „entfernte Aufträge“. So ging Jaguschinski, der mit Ostermann gar nicht gut stand, zeitweilig als Gesandter nach Berlin. Allerdings wurden nicht selten auch wirklich Schuldige getroffen, am meisten wegen Unterschleife. Es war und blieb noch vielfach so, wie Jaguschinski einmal dem großen Peter gesagt hatte: „Wir stehlen alle, die einen mehr und augenfälliger als die anderen.“ Aber Härte sät auch Haß. Man sah auch, wie es bei Hofe zuging. Kostspielige Feste, späte Freuden, üppiger Kleideraufwand kamen noch zu stehen. Bei dem Bestreben vieler vornehmen Russen, westeuropäisch aufzutreten, kam es oft zu Lächerlichkeit und Widersinn. Wir verstehen heute nicht recht, wenn z. B. selbst ältere fremde Würdenträger, auch Ostermann, Birons wegen zu Hoffesten in rosafarbenem Gewand erschienen, wie Manstein berichtet.

 

Ostermann und Münnich waren freilich mehr als bloße Hofschranzen. Um Damen von Stand hat sich Ostermann nie Mühe gegeben. Das Beinleiden, das immer mehr Wahrheit denn Dichtung wurde, ließ sich trefflich als Entschuldigung anführen, wenn er dem Hofe fernbleiben wollte. Manches brachte Karl v. Brevern, Ostermann treuer und geschickter Helfer, in die Reihe. Ging es aber gar nicht anders, so ließ sich der Kanzler im Lehnsessel zu Hofe tragen. Brevern war mit Ostermanns Gedankengängen so vertraut wie kein zweiter. Der Westfale Ostermann war zugeknöpft, der Diplomat noch weit mehr. Sein Arbeitszimmer lag immer im Schimmer der Geheimnisse. Da arbeitete er am liebsten allein und mühte sich darum fast zu Tode. Es gab Zeiten, in denen der gichtgeplagte Staatsmann im Lehnsessel auch wohl sein Äußeres vernachlässigte.

 

Die Kriegerischen Auseinandersetzungen der beiden ersten Jahrzehnte des 18. Jh. Hatten erhebliche Machtverlagerungen gebracht. Frankreich war zurückgedrängt, Schweden niedergeworfen. England und Rußland standen stärker da. Die beiden folgenden Jahrzehnte hatten auch wohl noch ihre Spannungen und Drohungen, aber es war doch mehr ein Ausschäumen von Kriegen und Friedensschlüssen. Diplomatische Verhandlungen drängten sich vor, und die lagen Ostermann mehr als alles andere. Jähkopf von Jena war mit der Zeit ein wissender und wägender Politiker geworden. Selbst ein Stockrusse wie Ustrialow gibt Ostermann das Zeugnis, daß er Rußland mit Ehre und Ruhm auf der diplomatischen Laufbahn gedient habe. Der begabte, findige und arbeitsfrohe Staatsmann beherrschte das Russische, Französische und Italienische, ohne seine deutsche Muttersprache zu vernachlässigen oder gar zu vergessen. Jede politische Frage, deren Lösung bevorstand, studierte er aufs gründlichste. Als Redakteur war er unübertrefflich. Sein Talent für diplomatische Geschäfte in einer Zeit, da der Satz galt, die Sprache sei dazu da, die Gedanken zu verbergen, muß auffallend gewesen sein. „Er hatte eine sonderbare Art zu reden, daß sehr wenige Leute sich rühmen konnten, ihn verstanden zu haben. Oft wußten die auswärtigen Gesandten, wenn sie nach einer zwei Stunden langen Unterredung aus seinem Kabinette kamen, gerade nicht mehr von seinem Entschlusse als vorher. Wenn der spanische Herzog von Liria einmal schrieb, daß Ostermann der Verstellungskunst im höchsten Grade mächtig gewesen und es ihm leicht geworden sei, auch den listigsten Gegner zu täuschen, so vergißt er zu sagen, wie andere Diplomaten arbeiteten, räumt jedoch mittelbar ein, daß oft über Schlaue ein Schlauerer gekommen ist. Uebrigens rühmt der Spanier von Ostermann, daß er es mit dem russischen Reiche ehrlich und aufrichtige gemeint und unermüdlich für dessen wahres Wohl gewirkt habe.

 

Als Rußland an die Ostsee gelangt war, fürchtete England für seinen Ostseehandel. Das führte zum ersten englisch-russischen Zusammenstoß, ähnlich wie ein zweiter Zusammenprall erfolgte, als sich Rußland gegen Ende des 18 Jh. Am Schwarzen Meere stark machte. Allein nach dem Nystädter Frieden wußten sich die Engländer den Machtverlagerungen anzupassen. Die Zusammenarbeit mit der kapitalarmen kreditbedürftigen russische Wirtschaft, verbunden mit einem geschickten Wettbewerb gegenüber den Holländern, führte bereits 1734 zu einem Handelsvertrag, dem einzigen, den Rußland damals hatte. Die Bindungen mit Preußen, so 1726 und 1729/30, später 1740, waren Teile politischer Verträge und sahen nur Meistbegünstigung vor, was bei dem damaligen Stande des preußischen Außenhandels nicht allzu viel bedeutete.

 

Mit England fand sich Rußland in gleicher Gegnerschaft, nämlich zu Frankreich. Darum kamen sich beide nach Zeiten des Abwartens auch politisch näher. Ein förmlicher Bündnisvertrag, über den Ostermann einige Jahre lang verhandelte, reifte allerdings erst nach seinem Sturze aus, wie auch sein Plan, Dänemark, Preußen und Holland dem Zusammengehen mit England anzuschließen, nur Plan blieb. Frankreichs Bestreben nach Uebergewicht in den europäischen Verhältnissen, das fast immer Habsburg mehr oder weniger berührte, konnte für Rußland eine gefährliche Front mit Polen in der Mitte und Schweden und Türken auf den beiden Flügeln bedeuten. Frankreich im Bunde mit alten Feinden Rußlands? Ostermanns Hinneigung zu Oesterreich erklärt sich recht einfach.

 

Schon vor dem Tode Augusts II. von Sachsen-Polen hatten zwischen Rußland, Oesterreich und Preußen Verhandlungen über die Thronfolge in Polen stattgefunden. Für Rußland unterhandelte Löwenwolde, hinter dem man wohl Ostermann vermuten darf. Man war sich einig geworden, Stanislaus Lesczinski nicht wiederkehren zu lassen, auch wenn sich sein Schwiegervater, Ludwig XV. von Frankreich für ihn verwenden würde. In einem Geheimartikel war bestimmt, daß Kurland einmal an einen preußischen Prinzen fallen solle. Allerdings wurde der Vertrag von keiner Seite bindend unterzeichnet. Als August II. 1733 gestorben war, setzte sich Frankreich für Stanislaus ein. Ostermann ließ verlauten, Rußland werde eine Wahl desselben als Kriegserklärung betrachten. Eine gegenteilige Erklärung lag von Frankreich vor. Inzwischen hatten sich Oesterreich und Rußland für eine Wahl des Sohnes Augusts II. entschlossen. Preußen wollte zustimmen, wenn ihm seine Ansprüche auf Berg und Kurland verbürgt würden. Unter der Hand hatte sich Biron von dem zukünftigen König von Polen als Lehnsherrn Kurland zusichern lassen. Als Preußen noch zauderte, namentlich auch seiner Gefahren im Westen wegen, erklärten sich Oesterreich und Rußland für den Sachsen. In Rußland war Birons Plan eines Einvernehmens mit Oesterreich und Sachsen zu Siege gekommen und Löwenwolde-Ostermann mit dem Gedanken eines Zusammengehens mit Oesterreich und Preußen gescheitert. Als nun in Polen Stanislaus gewählt wurde, machte vor allem Rußland seine Drohung wahr. Zum erstemal standen sich Franzosen und Russen in Waffen gegenüber. Stanislaus mußte fliehen; eine Auslieferung an Rußland lehnte Preußen ab. Aber die französischen Pläne in Polen scheiterten, der österreichische-russische Kandidat bestieg als August III. den polnischen Königsthron.

 

Nicht so schnell sollten sich die Verwicklungen auf den beiden Flügeln erledigen. Der alte Drang Rußlands nach dem Schwarzen Meere war wohl seit 1711 mit den Abmachungen am Pruth vorerst zurückgepflockt, aber keineswegs begraben worden. Rußland, „ein Rock ohne Aermel“, hatte 1721 einen zur Ostsee gefunden; der zum Schwarzen Meere fehlte noch. Sowohl von den Tartaren der Krim wie von Stämmen am Kaukasus hatte Rußland in der Folge manches einstecken müssen. Und bei den Türken rührte und schürte der Franzose. Für Ostermann stand fest, daß ein neuer Krieg mit den Türken unausbleiblich war. Die Frage war nur: wann beginnt er am füglichsten? Jedenfalls war es ratsam, sich Persien zum Freunde zu machen. Darum gab man ihm große Teile der unter Peter I. gemachten Eroberungen zurück. Ein Krieg zwischen Persern und Türken verlief für letztere wenig glücklich. Die Vertreter Rußlands bei der Pforte rieten, zeitig loszuschlagen und nicht erst Frieden abzuwarten. Der Draufgänger Münnich siegte über den bedächtigeren Ostermann, 1735 entschied sich Petersburg für Krieg. Ostermann glaubte, auf Oesterreich rechnen zu könne. In Verfolg des 1732 erneuerten Bündnisses waren 1735 für Oesterreich 12 000 Russen gegen Frankreich nach dem Rhein geworfen worden. Als nun Gegendienst gefordert wurde, stieß man auf taube Ohren. Ostermann sah seine Politik durchkreuzt und führte die weiteren Verhandlungen mit Oesterreich mit begreiflicher Bitterkeit, um so mehr, als er Frankreich mit im Spiele wußte. 1736 endlich entschied sich Oesterreich im Gedenken der Siege des Prinzen Eugen zur Teilnahme am Feldzug. Leider erwies sich, daß der gefeierte Heerführer wenig fähige Nachfolge hatte.

 

Die ersten Kriegsjahre verliefen wenig erfolgreich. Der persische Schah ließ die Russen im Stich. Darum wurde mehr von Oesterreich erwartet. Der österreichische Gesandte Ostein dachte auf französische Friedensvermittlung und wurde darin von Biron unterstützt. Ostermann war dagegen, weshalb sich Ostein immer wieder auf Ostermanns kriegerische Gesinnung berief. Die Spannung wurde schließlich so groß, daß Ostermann erklärte, wenn Ostein weiter so gegen ihn tätig sei, werde er seien Kaiserin bitten, ihn von allen Verhandlungen mit ihm zu entbinden. Ostermann hatte aber auch noch andere Sorgen. Asow war zwar genommen, jedoch war es mit der Einigkeit der russische Generale nicht weit her. Verschiedene unter ihnen, darunter der Prinz von Hessen-Homburg, dachten daran, den Oberbefehlshaber Münnich verhaften zu lassen. Dazu kam es zwar nicht. Doch erreichten sie, daß Münnich sich vor dem Kriegsgericht verantworten mußte. Es sprach ihn frei, aber ein Stachel blieb. 1737 erstürmte Münnisch Otschakow, wenn auch mit starken Verlusten. Auch die Oesterreicher errangen etliche Erfolge. Wieder meldete sich Ostein mit der französischen Friedensvermittlung. Um die Türken williger zu machen, schlug er die Rückgabe Otschakows vor. Ostermann lehnte entschieden ab und suchte weiterem auszuweichen. Da mußte er auf ausdrücklichen Befehl der Kaiserin Anna, die von Biron und Wolinski beraten wurde, in eine französische Vermittlung willigen.

 

Auch das Jahr 1738 brachte den Verbündeten seine durchschlagenden Erfolge. Münnich, durch die abfällige Beurteilung seiner Kriegsführung seitens österreichischer Offiziere gereizt, zeigte sich noch mehr gegen seine Mitkämpfer eingenommen. Die Franzosen hatten inzwischen auch ein schwedisch-türkisches Einvernehmen eingefädelt. Ostermann mußte Ostein durch Brevern sagen lassen, wenn man Frieden wolle, müsse die österreichische Vertretung in Stockholm darauf hinwirken, daß die türkischen Waffenbestellungen in Schweden nicht ausgeführt würden. Auch in Petersburg wuchs die Stimmung für Frieden. Ostermann war gezwungen, die Kriegsziele niedriger zu stecken. Er wußte um die Schwächen der Bundesgenossen, um die französische Hetze im Norden, um das französische Bemühen, Wien von Petersburg zu trennen. Münnich sollte und wollte nun eine letzte große Karte aufspielen. Der Schlag gelang auch. Am Bruth von 1711 bei Stawutschane errangen 1739 die Russen den ersten großen Feldsieg über 90 000 Türken, ausgerechnet nach einer Vormarschrichtung wie sie die Oesterreicher schon wiederholt gewünscht hatten. Münnich frohlockte. Da kam die Nachricht, daß die Oesterreicher, trotz aller Abmachung gegen Sonderfrieden, mit der Pforte ins reine gekommen seien . Nun erkannten die Kaiserin Anna und Biron, daß Ostermann die französischen Vermittelungsangebote richtig eingeschätzt hatte. Zu spät. Rußland erreichte auch diesmal sein Absichten auf das Schwarze Meer nicht. Es ist begreiflich, daß damals in Petersburg Gerüchte von Ostermanns Rücktritt umgingen. Zu oft schon hatte man seine Pläne durchkreuzt. Er scheint aber Versicherungen erhalten zu haben, daß große Kinder der Eitelkeit mit und ohne Säbel zukünftig nicht mehr so viel zertreten sollten; er sei noch unentbehrlich.

 

Mittlerweile war die Lage am nördliche Flügel auch bedenklicher geworden. Die Stimmung der Schweden gegen Rußland war gereizt geblieben, obwohl 1735 das Verteidigungsbündnis von 1724 erneuert worden war. Aufmerksam verfolgte Rußlands Gesandter in Stockholm, Bestuschew, alle rußlandfeindlichen Vorgänge, hinter denen auch hier die Franzosen standen. Er erfuhr, wie Schweden wiederum Verbindung mit den Türken anstrebte. Im Sommer 1738 gab er Petersburg den Wink, den Major Sinclair, der schon zum zweitenmale in geheimen Aufträgen durch Polen nach Konstantinopel reise, aufzuheben und seine Papiere zu nehmen. Münnich griff den Gedanken auf und beauftragte zwei Offiziere, Sinclair auf der Rückreise Aufzugreifen. In der Nähe von Christianstadt auf sächsischem Boden wurden sie auch des Majors habhaft. Während der Durchsuchung des Gepäcks wurde Sinclair erschossen. Sein französischer Begleiter erhielt bald darauf die Freiheit; das Ungemach suchte man mit Geld abzugleichen. Natürlich wirbelte der Vorfall nicht nur in Schweden, sondern auch in ganz Europa ungeheure Erregung auf. Als der sächsische Gesandte Suhm Ostermann Nachricht von dem Ueberfall brachte, zeigte sich der Vizekanzler höchlich erschrocken und wies gleich auf die üble Nachrede hin, die nun in aller Welt aufkommen werde. So wichtig die Papiere auch sein möchten, er möchte jetzt wünschen, daß Sinclair ungefährdet entkommen wäre. Solche Mittel verdienten das Rad. Zweifellos hatte man sowohl in Wien und Dresden wie in Petersburg um das Unternehmen gewußt, wenn man eben so sicher auch nicht den Mord gewollt hatte. Jedenfalls wurden die beiden schuldigen Offiziere nach Sibirien verbracht. Das sah nach Bestrafung aus. Es bedeutete jedoch auch, daß damit die Möglichkeit genommen war, den oder die Auftraggeber herauszubekommen. Sinclairs Briefschaften wurden der schwedischen Regierung in einem versiegelten und anscheinend unversehrten Paket mit der Hamburger Post wieder zugestellt. Ostermann teilte allen auswärtigen Ministern mit, seine Kaiserin versichere bei ihrem kaiserlichen Wort, die Tat sei ohne ihr Wissen und Wollen geschehen. Zweifellos hatte man aber erfahren, was schwarz auf weiß zwischen Schweden und Türken abgemacht war. Petersburg mochte daran liegen, daß Schweden sich nicht vor Beendigung des Türkenkrieges gegen Rußland erklärte. Stockholm rüstete zum Angriff und zur Rache, und Ende 1739 kam mit der Pforte ein Abwehrbündnis zustande. Da jedoch der Türkenkrieg beendet war und Frankreich, das hinter den Schweden stand, nicht genug Gewinn in neuen Verwicklungen sah, abmahnte, verzögerte sich ein schwedisch-russischer Krieg noch bis 1741. Ostermann sah aber die Dinge kommen und ließ die nötigen Vorkehrungen treffen

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In Petersburg war 1738 der Graf Wolinski in die Reihe der Minister eingetreten, ein sehr befähigter, aber auch ein sehr raffgieriger und käuflicher Mann. Biron glaubte, an ihm ein Werkzeug gegen alle zu finden, die ihm unbequem geworden waren. Dazu gehörte auch Graf Ostermann. Jaguschinski hatte schon 1736 gesagt, e sähe voraus, daß Wolinski es noch zum Minister bringen werde; er messe ihm dann noch etwa zwei Jahre zu, dann werde man ihn hängen müssen. Das Haus Wolinskis wurde Sammelpunkt aller, denen die Vorherrschaft der Deutschen verhaßt war. Die Maulwurfsarbeit des neuen Ministers richtete sich vor allem gegen Ostermann, der zwar wohl nicht mehr so ungehemmt einflußreich da stand wie ehedem, aber nach seiner Meinung noch viel zu mächtig war. War erst Ostermann beseitigt, so stand zu hoffen, durch Biron die Kaiserin besser beherrschen zu können und sich an die Spitze der Regierung zu bringen. Weil Wolinski vornehmlich mit inneren Angelegenheiten zu tun bekam, ließ ihn Ostermann ungefähr gewähren. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß alle diese hemmungslosen machthungrigen Streber sich selber ins Unglück geritten hatten. Er war auch zu klug, sich durch die aufbrausende Heftigkeit Wolinskis zu hängefähigen Aeußerungen hinreißen zu lassen. Noch wütender wurde Wolinski auf Ostermann, weil er ihm die Erledigung von Dingen überließ, die erfahrungsgemäß durchfielen und die Wolinski doch meistern wollte.

 

Noch 1739 überreichte Wolinski der Kaiserin und Biron eine Denkschrift, die Mittel vorschlug, schlechte Staatsdiener zu entlarven und Sicherheit, Treue und Ruhe herbeizuführen. Namen waren zwar nicht genannt, doch war mit Händen zu greifen, daß in der Hauptsache Ostermann gemeint war. As die Kaiserin fragte, auf wen denn eigentlich gespielt sei, kniff der Feigling und wollte nur ganz allgemein geraten haben. Das willfährigste Werkzeug Wolinskis war der Geheimschreiber der Kaiserin, Eichler. Er war der Sohn deutscher Eltern und in Rußland geboren. Ostermann hatte schon in der Zeit der Dolgorukis mit ihm unangenehme Erfahrungen gemacht. Ausgerechnet der Eichler lief eines Tages aus Moskau ein Brief ohne Unterschrift ein, der wiederum vor Ostermann warnte. Wie sich später ergab, hatten Wolinski und Eichler das feige Machwerk verfaßt und in Moskau durch einen Vertrauten zur Post geben lassen. Andererseits fehlte es bei Hofe auch nicht an Stimmen, die Wolinski ins verdiente Licht setzten. Der Haß macht Wolinski blind. Weil ihm der Herzog von Kurland, dem Ostermann mit der Zeit auch unbequem geworden war, nicht willfährig genug war, hörte Wolinski mehr und mehr mit den Katzbuckeleien vor Biron auf. Man raunte, daß er nun auch Biron den Untergang geschworen habe. 1740 brach er mit ihm; mit seinen sonstigen vielen Feinden am Hofe glaubte er nicht rechnen zu brauchen. Nun wandte sich der Spieß gegen Wolinski selbst. In seiner Bedrängnis suchte der auch von Russen vielgehaßte Mann Zuflucht bei Münnich, der inzwischen mit Ostermann zerfallen war. Die Untersuchungshaft brachte Unglaubliches zu Tage, auch wenn viel Zweifelhaftes abgestrichen wird. Die Hauptklagen brachten Russen ein, und Russen verurteilen den Russen. Der Henker schlug ihm die rechte Hand ab und legte ihm den Kopf zu Füßen. Wäre Wolinski oben geblieben, so hätte er es gewiß mit seinen Gegnern nicht anders gemacht. Ganz sicher nicht anders bei den so gehaßten Ostermann, der stets so gemessen, verschlossen und berechnend war und ihm mit seiner ganzen Geisteshaltung und seinen sittlichen Grundsätzen überall im Wege stand. Für Ostermann handelte es sich damals um Sein oder Nichtsein, er wird darum auch an dem Sturze seines gefährlichen Gegners nach Kräften mitgearbeitet haben. Das räumt auch ein klarsehender Russe wie Korsakow ein. Er gibt zwar Ostermann mehr Schuld am Untergang Wolinskis als Biron; die meiste Schuld habe aber Wolinski selbst gehabt, der bei aller Anerkennung seines Nationalstolzes in seinen Leidenschaften sein Maß gekannt habe.

 

Nun kam die Zeit, von der ein neuerer Geschichtsschreiber sagt: „Die Regierung lag tatsächlich in den Händen des Herrn Biron aus Kalmzeen in Kurland, des Herrn Ostermann aus Bochum in Westfalen und des Herrn v. Münnich aus Neu-Huntorf in Oldenburg.“ Das Volk sah teilnahmslos zu, an Umsturz war nicht so leicht zu denken. Es war auch nichts Neues mehr, wenn sich Große einander hoben und stürzten. Kaiser war Biron, zwar nicht nach Titel, aber nach Tun. „Der schlaue Staatsmann Ostermann hielt sich stets in einiger Entfernung von Biron, weil er dessen Untergang voraussah, aber er blieb doch neutral.“ Der sächsische Oberst Neubauer berichtete 1740, daß Ostermann alle Privatsachen, die nicht unmittelbar auf seine Geschäfte Einfluß hätten, völlig gleichgültig seien. Er sei zufrieden, wenn die Sachen so angefaßt würden, wie er es für gut befunden. Er kümmere sich auch nicht um den Ruhm des Erfolges, den er sogar absichtlich von sich lenke. Alle Geschäfte würden im Einvernehmen mit Biron unternommen; Biron fasse nichts Wichtiges an, ohne Ostermanns Rat und Meinung gehört zu haben. „Durch dieses vorsichtige Benehmen erhält der Vizekanzler sich in der hohen Stellung, welcher er übrigens auch allein im ganzen Reiche gewachsen ist. In Bezug auf die auswärtigen Verhältnisse ist er vollends unersetzbar. Sehr zustatten kommt Ostermann das große Talent, überall die Leute herauszufinden, die er braucht.“

 

Was Menschikow nicht erreicht hatte, errang Biron. 1737 wurde er Herzog von Kurland; der König von Polen war sein Lehnsherr. Von nun an war er noch schwerer zu ertragen. Sein Hochmut wollte über seinen Herzogshut weit hinaus. Um so freundlicher gab er sich der jungen Prinzessin Anna Leopoldowna, die von der Kaiserin Anna ausersehen war, demnächst dem Reiche einen jungen Kaiser zu schenken. Darum warb Biron bei der Prinzessin für seinen Sohn Peter. Vom Hofe her dachte man an einen deutschen Prinzen als Gemahl und brachte schließlich Anton Ulrich von Braunschweig-Bebern, den Schwager Friedrichs des Großen, in Vorschlag. Anna Leopoldowna mochte keinen der beiden, entschied sich aber doch für den Braunschweiger. 1739 war Hochzeit; Ostermann der Unentbehrliche mußte vom Lehnsessel aus alle Feierlichkeiten und Förmlichkeiten einrichten. Als nach Jahresfrist dem Paare ein Prinz geboren wurde, war niemand mehr verstimmt als Biron. Die Tage der Kaiserin Anna waren gezählt, und wie es dann mit seiner Macht werden würde, stand nicht fest. Für die kommende Zeit hatte er keinen mehr zu fürchten als den schier unerforschlichen Grafen Ostermann. „Die Partei, welcher Ostermann den Kopf lieh, mußte siegen. Biron glaubte auch zu bemerken, daß Ostermann seit der Geburt des Prinzen Iwan sich nicht mehr so wie früher fügen wollte.“ Nach Dresden wurde berichtet: „Der Herzog (Biron) ist mit dem Grafen wieder zerfallen, daß man es nicht genug beschreiben kann.“ Es war also nicht das erste Zerwürfnis. Biron hatte nun auch viel an der bedächtigen Geschäftsführung Ostermanns auszusetzen. Er hielt ihm vor, die englischen Angelegenheiten würden wie alle auswärtigen Fragen lässig und zu langsam betrieben. Eine 30 Seiten lange Rechtfertigung Ostermanns wollte er nicht gelten lassen. Graf Ostermann bilde sich ein, alle Menschen seien im Vergleich zu ihm blind. Er habe jetzt alle Kunstgriffe durchschaut. Wenn auch die Gehilfen Ostermanns ihren Meister wie einen Gott hielten, er betrüge nicht Biron, sondern sich selbst, er habe ihm in seine Karten gesehen. Ostermann solle nicht meinen, daß man deshalb nicht in sein Inneres sehen könne, weil er keinen Bogen schreibe, ohne dabei zu beten und den lieben Gott einzumengen. Es mag schon sein, daß Ostermann bei solchen Anwürfen aus solchem Munde vor Wut geheult hat, wie berichtet wird.

 

Ostermann war Biron schon länger unbequem gewesen. Biron hatte zu Anfang 1740 den russischen Gesandten in Kopenhagen, Bestuschew, nach Petersburg geholt und in die Ministerrunde aufnehmen lassen, um gegen den zu überlegenen Ostermann ein Gegengewicht zu haben. Bestuschew war schlecht auf den Vizekanzler zu sprechen, weil er nicht genug für ihn getan hatte. Er wußte um den Wind, der wehte, und suchte sich bei Biron möglichst festzusetzen. Eine besondere Gelegenheit bot sich bald. Als die Kaiserin Anna dem Ende entgegenging, wußte Bestusschew es zu fingern, daß nicht Mutter, nicht Vater des kleinen Iwan, sondern Biron zum Regenten bestellt wurde. Alle Hofgrößen hatten unterschrieben bis auf Ostermann. Als er auch unterzeichnen sollte, machte er geltend, er sei doch nicht Russe von Nation. Man entgegnete, er bekleide eine hinlänglich naturalisierende Stelle. Nun schützte er Unvermögen der Hand infolge Krankheit vor. Es nützte nichts. Zitternd setzte er endlich seine Unterschrift. Als die strebende Kaiserin Birons Ernennung zum Regenten unterzeichnete, mußte Ostermann Zeuge sein und das Schriftstück versiegeln. Dann sollte er allen Großen mitteilen, die Angelegenheit sei nun ganz in Ordnung. Ostermann tat das in so unbestimmten ausdrücken, daß bis zum Ableben der Kaiserin niemand recht wußte, ob sie unterschrieben hatte oder nicht. Anna war tot, Biron war Regent – doch nur für drei Wochen. Graf Ostermann zog sich ganz in sein Arbeitszimmer zurück, er berief sich auf sein Fußleiden.

 

Zurückgedrängt?

 

Biron begann seine Regentschaft mit allerlei kleinlichen Kränkungen der Eltern des Kaisers in der Wiege. Der Vater, Prinz Anton Ulrich, plante recht bald, den Regenten gewaltsam abzuschütteln, und näherte sich Ostermann. Als er ihn um Rat fragte, gab der vielerfahrene Vizekanzler zurück, der Prinz könne nur dann etwas unternehmen, wenn er überzeugt sei, wirkliche Stärke hinter sich zu haben. Allzuviel Freunde hatte Anton Ulrich jedoch nicht. Als sein aussichtsloser Plan ruchbar wurde, kam der Prinz in Haft. Er konnte von Glück sagen, daß er mit einem Verweis davon kam. Da offenbarte sich die Mutter des kaiserlichen Kindes dem Grafen Münnich. Sie wußte, daß auch er Biron quer geworden war und sich überzeugt hielt, unter dieser Regentschaft Nicht auf seine Rechnung zu kommen. Als Anna Leopoldowna Münnich sagte, sie wisse darum, daß man sie aus dem Lande wiesen wolle, und bat, Münnich möge dafür sorgen, daß sie dann wenigstens ihr Kind mitnehmen könne, reckte sich in dem Feldmarschall der Ritter. Zwei Tage später war Biron zu nachtschlafender Zeit – verhaftet. Auch Bestuschew war aufgehoben. Im folgenden Jahre fuhr der Herzog von Kurland mit Familie nach Sibirien. Wenn sich wohl auch Ostermann über das Ende dieser Regentschaft freute und erleichtert fühlen konnte, herbeigeführt hatte er es aber nicht. Stoßkraft und Durchführen in solchen Dingen lag nicht in seinem Wesen. An dem Haß, den Biron gesät hatte, mußte Ostermann mittragen. Wenn auch Biron sich nicht sonderlich von anderen Günstlingen vor und nach ihm unterschied, wenn auch z. B. Menschikow und Schuwalow nicht weniger grausam, habsüchtig und hinterhältig waren, das Volk vergaß ihrer Schandtaten – sie waren ja Russen – in Biron haßte es die Deutschen. So urteilte, entgegen einseitigen Herunterreißern, schon vor Jahren der russische Geschichtsschreiber Korsakow.

 

Der Mann des Tages war jetzt Münnich. Anna Leopoldowna, zur Großfürstin und Regentin erklärt, ernannte Münnich zum Ersten Minister, Tscherkaski zum Kanzler, Golowkin zum Vizekanzler und Ostermann zum – Generaladmiral. Der hochtrabende Titel konnte Ostermann jedoch nicht darüber wegtäuschen, daß er von der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten verdrängt war. Unter den leitenden Männern waren nur zwei Köpfe: Münnich und Ostermann; die anderen waren Puppen-Gestalten, aber wenigstens zwei Russen. Durch Münnichs Ernennung zum Ersten Minister kam die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten aus den erfahrenen Händen Ostermanns in die eines kühnen, ehrgeizigen und resch entschlossenen Soldaten. An die Stelle eines vertragstreuen Freundes Oesterreichs war en Feind Wiens und ein Freund Berlins getreten, was sich auch in dem Ende 1740 mit Preußen abgeschlossenen Vertrage erwies. Auf dem Gipfel seines Ruhmes hatte Münnich sein Auge mehr für seine alten Gegner, und deren waren viele. Dazu schaffte seine hochfahrende Art noch immer neue. Zu ihnen gehörte auch bald der Gemahl der Regentin, Anton Ulrich, der zwar zum Generalissmus ernannt wurde, doch nur dem Titel nach. Es war natürlich, daß sich der mit Geringschätzung behandelte Anton Ulrich mehr und mehr Ostermann zuwandte.

 

Anna Leopoldowna, 22 Jahre alt, offenbarte wenig Geschick und noch weniger Lust zum Regieren. Launenhaft und lässig von Hause aus, schwankte sie zwischen den Gestalten bei Hofe. Dabei war sie ohne alle Erfahrung. Ostermann, den die Last der Verantwortung, die vielen Hofstürme und die zahlreichen mehr oder weniger versteckt geführten Anschläge gegen ihn vorzeitig gealtert und noch verschlossener gemacht hatten, ließ sich oft im Lehnsessel zu Hofe tragen. Er sah in der jungen Frau die Regentin, der er durch Diensteid verbunden war, für die wie für das Reich er große Gefahren kommen sah. Eifersüchtig auf ihre Macht, wandte sich Anna bald wieder von dem Manne ab, dem sie hauptsächlich ihre Macht verdankte. Desto mehr gewann Einfluß der österreichische Gesandte Botta, noch mehr der schöne Graf Lynar, den man im Verdacht haben durfte, als demnächstiger Oberkammerherr bironmäßig Herr über Herz und Willen der Regentin zu werden. Schon wurden Richtsätze für die äußere österreichische Politik in nur österreichischem Sinne gefaßt und der Verwaltung Ostermanns Erschwerungen bereitet. Die Regentin gefiel sich eben darin, das Gegenteil von dem zu tun, was er wünschte. Auch seinen persönlichen Gegnern, durch deren Sturz sei emporgekommen war, gewährte sie Zutritt. Wenn sich auch der Ehrgeiz des zurückgedrängten Westfalen an dem Stolz des so hoch gestiegenen Oldenburgers rieb, es ließ sich nicht bestreiten, daß Münnich von auswärtigen Staatsangelegenheiten und ihren Zusammenhängen wenig verstand. Münnich war ja stets mit militärischen und technischen Dingen befaßt gewesen; da allerdings hatte er auch glänzend seinen Mann gestanden. Nicht ohne Absicht ließ Ostermann gelegentlich für seinen Nebenbuhler diplomatische Knoten liegen und berief sich auf seine Krankheit, die nicht mehr mit einem gewissen Lächeln und Zweifeln abgetan werden konnte. Ostermann erreichte denn auch, daß er für das Auswärtige mit der Zeit wieder mehr herangezogen wurde, ohne das er sich immer durchsetzen konnte. Dafür waren der Ratgeber der Hofe doch zu viele, die sich ihre Meinung zu oft von draußen her kneten ließen. Der Zwiespalt am Hofe führte zu heftigen Schwankungen; man sprach von einem Ringen zwischen Münnich und Ostermann. Der Vollzug der preußisch-russischen Abmachung scheiterte, weil die russische Ausfertigung dem preußischen Gesandten nicht preußisch genug war. Der Zwist endete damit, daß Münnich seinen Abschied erhielt. Seine Eigenköpfigkeit und sein Starrsinn hatte seinen Gegnern doch zu viele Blößen geboten. Sehr bald jedoch sollte zu bedauern sein, daß ein rasch entschlossener mutiger Degen zu früh in die Ecke gestellt worden war. Zwei Männer, jeder anders groß, berufen, sich wechselseitig stark zu machen, imstande sich klug zu Kräften und Schwächen der großen Länderkarte zu stellen, fehlten auf der schmalen Grundlage deutscher Geltung auseinander. Es soll ja leichter sein, zwei Deutsche in drei Gruppen aufzuspalten, als unter einem Hut zu halten.

 

Allein an der Macht?

 

Schon im Frühjahr 1740 hatte Ostermann die ganze Lage in Europa sehr ernst angesehen. Der Gemeinplatz vom europäischen Gleichgewicht wackelte. Die Welt war weiter geworden. Frankreich und England standen sich drohend gegenüber. Der vielberufene erste Funke konnte einen großen Krieg auch ganz fern, vielleicht in Westindien anfachen. Größere und kleinere Höfe fingen an, die Zukunft aufzurechnen und die „Wenn“ abzuwägen. Schweden sann auf Rache an Rußland. In Preußen war ein junger König zur Regierung gekommen. Anna Iwanowna, die russische Kaiserin, war am 28. Oktober gestorben, acht Tage vorher der deutsche Kaiser Karl VI. mit seinen vielen Sorgen um die pragmatische Sanktion, die Maria Theresia die Erbfolge sichern sollte. Und bald hörte man von Verhandlungen zwischen Berlin und Wien wegen – Schlesiens. Naturgemäß mußte Preußen daran gelegen sein, von Rußland der für alle Fälle gesichert zu sein. Davon hing auch die Stellungnahme zu Frankreich und England-Hannover ab. Aber auch Rußland mußte wünschen, Schwedens wegen mit Preußen in ein festeres Verhältnis zu kommen. Das war nicht zuletzt Birons Begehr, der wegen der bedrohlichen schwedischen Rüstungen in Finnland für sein Herzogtum Kurland bangte. Graf Ostermann hatte schon immer die Verständigung mit Preußen empfohlen.

 

Grundlage der preußisch-russischen Verhandlungen war der alte Vertrag von 1726 mit einem Sondersatz von 1737, der die russische Bürgerschaft für die preußische Erbfolge in Jülich-Berg forderte und dafür Preußens Mitschutz für Kurland anbot. Ostermanns Gegenvorschlag sah gegenseitige Hilfe mit 10 000 Mann vor und nicht nur Sicherheit für die preußischen Ostseelande. Aber die Frage Jülich-Berg sei eine innere Reichssache, in die sich keine auswärtige Macht einzumischen habe; darum habe sich Rußland darin auch anderen Mächten versagt. Ein Geheimzusatz besagte jedoch, daß Rußland um Jülich-Berg keinerlei Verpflichtungen habe, die Preußen nachteilig oder zuwider sein könnten; man sei auch nicht gewillt, jemals solche zu übernehmen. Daraus war u. a. zu schließen, daß Rußland nicht für sächsische Absichten in dieser Frage eintreten werde. Ostermann mußte also wohl über Biron, Sachsen Freund, die Oberhand behalten haben. Jedenfalls war der preußische König mit dem Ergebnis zufrieden

 

Ehe sich Friedrich der Große zu entscheidenden Schritten wegen Schlesiens entschloß, überschlug er mit klarem Blick die gesamte Lage Europas. In Hinsicht auf Rußland meinte er: „Wenn die Russen uns angreifen, so können sie sicher sein, daß sofort Schweden gegen sie vorgeht; dann sind sie zwischen Hammer und Amboß . . . Wenn man auf die übrigen Minister (außer Biron, der die schlesische Herrschaft Wartenberg besaß) einigen Regen der Danae fallen läßt, so werden sie denken, wie man es haben will.“ Daß er Ostermann hätte ausnehmen müssen, lehrte auch ihn die Erfahrung. Einmal wies der seinem König unbedingt ergebene kluge Minister Bodewils, der in manchen Gedankengängen Ostermanns Auffassung teilte, darauf hin, Rußland sei vertraglich gehalten, Oesterreich mit 30 000 Mann zu Hilfe zu kommen. Der König hielt entgegen, in Preußen stehe doch eine ansehnliche militärische Macht, die zudem noch leicht verstärkt werden könne. Wagten die Russen trotzdem anzugreifen, so wisse er ihnen schon entgegenzutreten.

 

Der Vertrag mit Rußland war zwar schon im Oktober 1740 so gut wie fertig; noch aber standen die Unterschriften aus. Der preußische Gesandte v. Mardefeld war der Meinung, Ostermann zögere mit der Unterschrift nur aus Rücksicht auf Oesterreich. Anscheinend war er überhaupt nicht zu sehr für Ostermann eingenommen, wohl, weil er ihm nicht so willig und wienfeindlich wie Münnich war. In Wirklichkeit suchte Ostermann jedoch Zeit zu gewinnen und damit Möglichkeiten für friedlichere Auslösungen. Es war tatsächlich so, wie Rußlands Vertreter in Berlin zugab: Petersburg sei in äußerster Verlegenheit, zwei so nahe befreundete Mächte in Zwiespalt zu sehen. Auch der so scharf sehende Mardefeld mußte wissen, daß Ostermann gerade so gut wie Münnich den Oesterreichern den übereilten Frieden mit den Türken nachtrug, hinter zudem Frankreich gestanden hatte. Der österreichische Gesandte Ostein war der Meinung gewesen, von Ostermann sei wegen der nahe oder weiter einschlagenden preußischen Belange für Oesterreich nichts gutes, wohl aber alles üble zu besorgen, wenn er nicht daran gehindert werde. Und noch im März 1741 fürchtete der sächsische Gesandte Graf Lynar, Ostermann, übrigens unbestechlich, könne am Ende doch noch zu Preußen neigen. In Ostermanns Ueberlegungen spielte auch Schwedens Verhalten mit. Es lag auf der Hand, daß der preußische König, falls Rußland schwierig werden sollte, das auf Krieg sinnende Schweden mit in seine Pläne einbezog. Ob so oder so, wenn russische Soldaten zugunsten Oesterreichs auszögen, würden die Schweden losschlagen. Kein Wunder, daß weniger verantwortliche Ratgeber in Petersburg weder von Vertrag mit Oesterreich noch mit Preußen wissen wollten. So einfach lagen die Dinge für einen Staatsmann von Grund und Grad nun doch nicht. Nach Birons Sturz am 19. November 1740 beherrschte Münnich die Meinung am russischen Hofe. Er haßte die Oesterreicher, die ihm den Ruhm des Türkenkrieges vereitelt hatten. Schon darum war es dem preußischen König nicht schwer geworden, den ohnehin für Preußens gestrafftes Wesen eingenommenen Feldmarschall für sich zu gewinnen. Wie Friedrich der Große später in seinen Denkwürdigkeiten selbst sagte, wurde nicht an Aufmerksamkeiten für ihn gespart. Als Münnich mit Preußen abschloß, betonte aber auch er, damit sei Rußland seiner Verpflichtungen gegen Oesterreich nicht ledig; der König möge etwas von seinen Forderungen ablassen, damit desto leichter eine Verständigung mit Maria Theresia erreicht werde. Auch Ostermann, der gern daran erinnerte, daß er geborener Preuße sei, wies den König auf die großen Gefahren hin, die er über Europa bringe, wenn er bei seiner Forderung beharre. Am 16. Dezember konnte Friedrich die schlesische Grenze überschreiten. Sein treuer Minister Bodewils wollte noch immer nicht seine Besorgnis unterdrücken, Rußland könnte trotz seiner eigenen Unsicherheit doch noch ganz zu Oesterreich treten und der Provinz Preußen gefährlich werden; da hatte de König nur ein „Piano“. Er ließ durch Mardefeld in Petersburg mitteilen, so lange er noch Aussicht auf die guten Dienste Rußlands zu einer Verständigung habe, werde er die Erbietungen Frankreichs ausschlagen. An der Newa ging es damals hoch her. England, Sachsen, Oesterreich suchten die preußischen Bemühungen um Rußland zu übertrumpfen. Mardefeld schrieb damals, auch Ostermann müsse man warmhalten; Oesterreichs Gesandter Botta biete bis zu 200 000 Tlr. Ostermann jedoch blieb der alte, wenn es auch wurmte, daß zu Münnichs hoher Zeit der geborene Preuße völlig überschattet worden war. Er sah nach wie vor seine Aufgabe in der Verständigung zwischen Oesterreich und Preußen. Als, noch gerüchtweise, verlautete, der preußische König habe die schlesische Grenze überschritten, schrieb er dem König, Rußland bedauere Preußens Schritt, ohne sich eine Untersuchung der preußischen Ansprüche auf Schlesien anmaßen zu wollen, und biete seine guten Vermittlungsdienste an. Dieses Schreiben bezeichnete Münnich später als einen der schönsten Briefe, die jemals aus Ostermanns Feder geflossen seien. Im Februar 1741 hörte man von Verhandlungen über eine Zerstückelung Preußens. Als der Graf Lynar davon in Petersburg Mitteilung machte, offenbar mit einem Auge auf österreichfreundliche Kreise, wurde ihm aber kurzab nur bedeutet, das sei ein nichtswürdiger Plan und nur wert, in Feuer geworfen zu werden. Das bedeute natürlich eine große Beruhigung für Preußen. Ein ähnlicher Plan tauchte jedoch einige Tage später wiederum auf. Man glaubte gar, Ostermann, der sich kurz vorher bündigbindend dagegen ausgesprochen hatte, habe Anton Ulrich, Oesterreichs Freund und Münnichs Feind, dafür gewonnen. Wie sich erwies, hatte sich Mardefeld doch falsch berichten lassen; er hatte auch den Ursprung des Planes in Dresden gesucht, in Wirklichkeit war er englischer Herkunft. Spielen mit solchen Gewaltversuchen lag gar nicht in Ostermanns Art. Er wußte auch zu gut, was derlei für Rußland bedeutete. Als Münnich gestürzt war, fürchtete man in Preußen, der angebliche Zerstückelungsplan könne nun doch auch in Rußland eine Rolle spielen; dort wurde nochmals klipp und klar versichert, man billige ihn nicht und werde ihm nun und nimmer beitreten. Offenbar hat man damals auch nicht immer klar erkennen wollen und können, was alles dem Widerstreit Münnichs-Ostermanns zuzuschreiben war. Anton Ulrich aber stand unter dem Einfluß der Witwe des verstorbenen deutschen Kaisers, der er gutteils seine Stellung in Rußland verdankte und deren Schwester doch seine Mutter war.

 

Durch Ostermanns Auffassung der europäischen Verhältnisse zog sich eine fast ständige Gegnerschaft zu Frankreich. Noch Mitte 1741 forderte er, Frankreich solle in aller Form erklären, sich nicht in deutsche Angelegenheiten einmischen zu wollen. Der Staatsmann im Norden hatte immer verstanden, auch über ziemlich verschwiegene Dinge Kundschaft zu erhalten. Zweifellos wußte er auch um das heiße Bemühen Frankreichs, mit Preußen zu einem Einvernehmen zu kommen. Als England mit Rußland zu einem Vertrage gelangt und ein solcher mit Oesterreich so gut wie sicher war, kam denn auch am 5. Juli 1741 ein französisch-preußisches Abkommen zustande. Frankreich mußte sich u. a. verpflichten, Schweden instand zu setzen und zu gegebener Zeit zu veranlassen, den schon in der Luft liegenden Krieg mit Rußland anzufangen. Da Frankreich außerdem auch in der Türkei gegen Rußland stocherte, bildete sich in Petersburg eine starke Meinung für einen offenen Bruch mit Frankreich. Allein der vorsichtige Ostermann drang mit der Ansicht durch, erst einen offenbaren Beweis französischer Feindschaft abzuwarten.

 

Als Friedrich der Große sich als Gewinner Schlesiens betrachten durfte, dachte man in Petersburg auf einen Zusammenschluß mit Oesterreich und Preußen gegen Westen. Frankreich, das schon lange darauf hinarbeitete, Wien und Petersburg auseinander zu bringen, antwortete darauf mit einem Doppelplan: Bedrohung Rußlands im Norden von Schweden her, im Süden aus dem türkischen Bereich heraus. Im Innern aber sollte ein Umsturz Elisabeth, die Tochter Peters, auf den Thron bringen.

 

Schon anfangs August 1741 erklärte Stockholm den Krieg an Rußland und bezog sich dabei auf angebliche russische Verletzung des Nystädter Friedens und die Ermordung Synclairs. Nach der schwedischen Niederlage bei Willmanstrand sah Ostermann größere Gefahren für Rußland zwar vorerst abgebogen. Aber der Brand konnte gefährlicher wieder aufflackern, und das forderte Bereitschaft. Den Vorteil aus dieser Lage konnte Preußens König ziehen, und die 30 000 Mann Hilfstruppen Rußlands für Oesterreich, von denen viel geredet wurde, bedeuteten vorerst nur Wahnung zur Mäßigung. Die möglichen Gefahren vom Süden her konnte Ostermann durch ein Verständigung mit den Türken ausschalten. Dabei kam ihm zustatten, daß die Türken nicht ohne Sorgen wegen Persiens waren. Es blieb auch nicht ohne Eindruck, daß Nadir Schah nach seinen Siegen gen Indien zu im Herbst 1741 eine pomphafte Gesandtschaft nach Petersburg schickte. Wenn auch nicht zu erweisen ist, daß der persische Gesandte bei dieser Gelegenheit um die Hand Elisabeths für seinen Herrn werben sollte, sicher ist, daß er persönlich mit der Prinzessin verhandeln wollte. Man hatte jedoch Grund einen solchen Empfang nicht zu verstatten. Darüber zeigte sich Elisabeth sehr ungehalten. Es ist für die damalige schon deutlich sich abhebende Lage bezeichnend, daß Elisabeth Ostermann sagen ließ, er bilde sich zwar ein, mit seiner Scheinheiligkeit die ganze Welt zu blenden. Sie wisse aber sehr wohl, daß er bei dieser wie bei jeder andern Gelegenheit sie nur zu demütigen suche, daß auf seinen Rat wider sie Anordnungen getroffen würden, an welche die Großfürstin in ihrer Herzensgüte nicht zu denken vermöge. Ostermann vergesse, wer die Prinzessin und wer er selbst sei, und daß es ihr Vater gewesen, dem er es zu danken habe, daß er aus einem Schreiber das geworden, was er jetzt bediene. Sie werde nie vergessen, was ihr von Gott und ihrer Geburt zukomme. Er könne versichert sein, daß sie sich darin nichts vergeben werde. Ostermann wurde jedenfalls bestätigt, daß gewisse Gerüchte um Elisabeths Absichten zu noch größere Vorsicht drängten.

 

Sturz

 

In Elisabeth sahen viele Russen die Tochter Peters des Großen mit begründeten Thronansprüchen. Andere wieder konnten nicht übersehen, daß sie eine voreheliche Tochter Peters und Katharinas war. Von ihren Eltern hatte sie nicht nur eine harte Gesundheit, sondern auch ebenso starke Sinnlichkeit geerbt. Nach dem Tode ihres Bräutigams war sie offenbar auf sittliche Abwege geraten. Wiederholt war versucht worden, sie nach dem Auslande zu verheiraten, vergebens. So lange sie sich mit der Reihe ihrer Liebhaber von öffentlichen Dingen fern hielt, ließ man sie gewähren, wenn man sie geldlich auch etwas kurz hielt. Seit dem Frühjahr 1741 pfiffen aber die Spatzen von den Dächern, daß Elisabeth nicht nur mit den Garden enge Beziehungen unterhielt, sondern auch mit dem Landesfeind in Verbindung stand.

 

Im Januar 1739 war in Petersburg als außerordentlicher Gesandter Frankreichs der Marquis de la Chétardie angekommen, ein Meister im Fühlen und Wühlen und Anritzen und zuspitzen. Er hatte bald heraus, wer in Petersburg etwas bedeutete und wer eine Null war. Ueber Ostermann waren Chétardie und Elisabeth von Anfang an einig: er mußte beseitigt werden. Ostermann hatte jedoch auch noch in der Gruppe der sogen. Russischen Patrioten unter dem Vizekanzler Golowkin Gegner. Sie waren an der Spitze, unzufrieden, wollten aber am Hause Anna Iwanownas festhalten. Die Patrioten bereiteten Ostermann viel Schwierigkeiten. Sie suchten auch Münnich u sich herüberzuziehen, der jedoch abwinkte. Das brachte ihn in den allerdings unbegründeten Verdacht, heimlich in Verbindung mit Elisabeth zu stehen. Als Golowkin mit dem Plan an Ostermann herantrat, Anna Leopoldowna zur Kaiserin zu erheben und Elisabeth in Kloster zu stecken, meinte Ostermann, jetzt, da der Feind an der Grenze stehe, sei für derlei Absichten wohl keine Zeit. Er hatte andere Sorgen.

 

Chétardie war verdächtig geschäftig. Er sparte auch nicht an Bestechungen. Den Verbindungsmann zu Elisabeth machte deren Arzt und Gesellschafter L`Estocq . Man wollte von großen Summen wissen, für die er sich und andere verkaufte. In geheimen Verhandlungen über Chétardie versprach Elisabeth den Schweden Erstattung aller Kriegskosten und Zuwendung der Handelsvorteile, die bis jetzt die Engländer inne hätten. Nur mit Frankreich und Schweden wolle sie sich verbünden, London und Wien jedoch fallen lassen. Auf die Rückgabe der Landgewinne des Nystädter Friedens wollte sie sich nicht einlassen, so sehr die Schweden sich auch darum bemühten. Die Hoffnung des Franzosen ging allerdings weiter. Wenn Elisabeth einmal Kaiserin sei, werde das Werk Peters des Großen abgebaut werden. Das werde zwar besonders bei Ostermann auf stärksten Widerstand stoßen. Der deutsche Minister werde jedoch mit Beginn der Regierung Elisabeths verschwinden und damit ein mächtiger Feind Frankreichs und Schwedens. Das Elisabeth beide Mächte nur als Steigbügelhalter nutzen werde, mochte der schlaue Chétardie nicht glauben. Desto lauter mußte der schwedische General Löwenhaupt verkünden, er sei mit seiner Armee nur deshalb gekommen, Rußland von dem unerträglichen Joch der fremden Minister zu befreien. Ostermann macht Anna Leopoldowna darauf aufmerksam, unter den Fremden sei nicht nur er und er Oberhofmarschall Löwenwolde, sondern auch sei zu verstehen. Aber die Regentin zeigte sich nicht sonderlich berührt. Es kamen Warnungen vom österreichischen und englischen Gesandten, Anna blieb sorglos. Als Ostermann sich einmal zu ihr tragen ließ und von geheimen Unterredungen Elisabeths mit Chétardie berichtete, ging sie gar nicht darauf ein, sondern zeigte ihm ein neues Kleidchen, das sie dem kleinen Kaiser hatte machen lassen. Sie vertraute der Prinzessin Elisabeth, die sich doch bisher so ergeben gezeigt hatte, und wollte nichts Arges von ihr erwarten.

 

Endlich raffte sich Anna Leopoldowna auf Tatsachen ließen sich nun doch nicht mehr mit Kleiderfragen abtun. Aber anstatt handeln zu lassen, bat sie Elisabeth zu sich und eröffnete ihr, wenn das so weiter gehe, müsse sie Chétardie abberufen lassen. Ihr Doktor Stecke mit dem Franzosen unter einer Decke. Sollten sich die Gerüchte über ihn bewahrheiten, so werde sie ihn natürlich verhaften lassen. Elisabeth beteuerte, niemals daran gedacht zu haben, etwas gegen Anna oder ihren Sohn zu unternehmen. Sie sei zu gewissenhaft, den ihr geleisteten Treueid zu verletzen. Und dann weinten sich beide Frauen mit vielen Tränen auseinander.

 

Einen Tag später, am 5. Dezember, verließ General Keith den Kriegsrat, der bei Ostermann tagte, um wieder auf den schwedischen Kriegsschauplatz zu gehen. Am gleichen Tage erhielten die Garden Befehl, binnen 24 Stunden zum Abmarsch bereit zu sein. Das bedeutete die Entfernung auch der Grenadiere, die L`Estocq durch drei Vertraute mit französischem Gelde für Elisabeth erkauft hatte und die bereit waren zu gewisser Zeit für die Prinzessin ihr Leben zu wagen.

 

Elisabeth nahm den Zwang der Stunde an. Sie hatte von Münnich gelernt. In der Nacht vom 5. zum 6. Dezember 1741, bald nach Mitternacht, fuhr sie mit L`Estocq, Woronzow und Schwarz und sieben Grenadieren nach der Kaserne der Grenadiere, ließ die Soldaten wecken und stellte sich als nunmehrige Kaiserin vor. Dann begab sich Elisabeth mit etwa 200 Grenadieren zum Schloß der Regentin. Ohne stärkeren Widerstand zu finden, drang man ins Schlafgemach Annas ein, die Regentin wurde mit Gemahl und Kindern zum Hause Elisabeths verbracht. Dort hatte sich fast die gesamte Garde eingefunden.

 

Inzwischen hatte man sich auch des Grafen Münnich, der eine Reise nach Deutschland um einige Tage verschoben hatte, des Barons Mengden, Präsident der Handelsschaft, und auch des Grafen Ostermann bemächtigt. Ostermann hatte noch am Tage vorher um Verdoppelung seine Hauswache ersuchen lassen. Als die Wachen sich widersetzen wollten, stellte sich heraus, daß man wohl Gewehre, aber keinen Schießbedarf hatte. Aus dem Schlaf gerissen, begriff Ostermann nicht sofort, was vorging. Weil er dann die eindringenden Grenadiere Rebellen schalt, gingen diese mit dem kranken Manne recht grob um. Seine Gemahlin mit ihren Kindern durfte gleich anderen die Wohnung nicht verlassen. In erster Linie wurden natürlich Deutsche verhaftet. Das Muster zu solch rascher Tat der Nacht hatte ein Jahr zuvor Münnich geliefert. Wenn sich ein entschlossener Mann an die Spitze einiger Truppen gestellt hätte, wäre es noch zwei Tage nachher möglich gewesen, die neue Kaiserin vom Throne zu stoßen, behauptet Manstein, und der kannte das damalige Petersburg. Dazu paßt, was der sächsische Geschäftsträger Pezold seinem Minister schrieb: „Alle Russen bekennen, wenn sie vertraut sprechen, daß es bloß des Beistandes einer Anzahl Grenadiere, eines Kellers voll Branntwein und einiger Säcke Geld bedarf, um zu machen, was man will.“

 

Der neue Senat bestand nur aus Russen. Bei den auswärtigen Geschäften verblieb Ostermanns rechte Hand, der Geheime Rat v. Berbern. Mit besonderer Eile wurde die Verurteilung der verhafteten „Staatsfeinde“ betrieben. Zunächst war man hinter ihren Geldern her. Zur Untersuchung der zur Last gelegten Verbrechen wurde eine besonderer Ausschuß eingesetzt. Vermutungen wurden als Tatsachen behandelt. Ostermann hielt man gegen 80 Anklagepunkte vor. Mit Würde und Ruhe erklärte er, er werde alles so darstellen, wie er wisse und wie es geschehen sei. Er nehme nur zur Entschuldigung, daß er immer, so lange er einer Regierung durch Eid und Pflicht verbunden gewesen sei, ihr alle anderen Rücksichten geopfert habe. Die wichtigsten Anklagepunkte waren wohl die, die von vorsätzlicher Ausschließung Elisabeths vom Throne handelten. Das sei bei der Wahl der Herzogin von Kurland geschehen, als das Testament Katharinas verheimlicht worden sei. Das sei auch im Werke gewesen, als man jüngst Anna Leopoldowna zur Kaiserin habe ausrufen wollen. Das sei die Absicht gewesen, als man die jetzige Kaiserin wiederholt nach dem Ausland habe verheiraten wollen. Das war teils an sich falsch, teils übersah man, daß kein Staatsmann so bestrebt gewesen war, sich vom unmittelbaren Eingreifen in so rein russische Geschäfte fernzuhalten wie Ostermann. Auch eigenmächtige Führung der Politik, Sturz vornehmer Männer und ungerechtfertigte Bereicherung wurden ihm vorgeworfen. Ostermann gab ein vollständiges Verzeichnis seiner Vermögenswerte; da damals in Rußland noch keine öffentlichen Banken bestanden, waren Gelder allerdings im Auslande angelegt.

 

Auf wirkliche Gerechtigkeit konnte Ostermann nicht rechnen; schon sein verschlossenes strenges Wesen hatte vielen nicht gepaßt. Man wußte, wie Elisabeth gerade ihn persönlich haßte und seinen Untergang als ihre höchstpersönliche Sache betreiben ließ. Sie hatte ihn ja bereits in einer öffentlichen Kundgebung verurteilt, ohne die Untersuchung abzuwarten. Münnich hatte sich ähnlicher Anklagen zu erwehren. Als es ihm zu bunt wurde, sagte er seinen Anklägern, sie möchten ihre erwünschten Aussagen nur so aufsetzen, wie es passe, er werde alles glatt unterschreiben. Bestuschew, Ostermann alter Feind, war gewiß in Anklagen nicht sparsam. Aber die Art der Untersuchung ekelte ihn an. Er räumte ein, daß die meisten im Untersuchungsausschuß nur ihrer Rachgier freien Lauf ließen. Es tue ihm leid, seiner eigenen Nation nachsagen zu müssen, daß die, die noch am Ruder saßen, keine List und Lüge scheuten, um zu stürzen, einer den andern Sieghafte Rachemöglichkeit hat schon oft unvernünftig gemacht. Um das Urteil nicht unterzeichnen zu müssen, blieb er den letzten Sitzungen fern und gab Krankheit vor. Wie das Urteil lautete, erfuhren die Angeklagten herkömmlich erst auf dem Richtplatz.

Am 29. Januar sollte das Urteil vollstreckt werden. Schon am frühen Morgen hatte man die Gefangenen von der Festung zum Senatsgebäude geholt. Gegen 10 Uhr wurde einer nach dem anderen herausgeführt, vor und hinter jeden ein Bajonett. Zuerst kam, aus Schwächlichkeit und schon seit Jahren des Gebrauchs seiner Füße nicht mehr mächtig, in einem gewöhnlichen Bauernschlitten sitzend, Ostermann. Ueber der Perücke trug er eine schwarzsamtne heruntergeschlagene Reisemütze. Der Leib war in einen alten langen fuchsgefütterten Pelz gehüllt, wie er ihn in den letzten Jahren auch in seinem Arbeitszimmer trug. Nun folgten Feldmarschall Münnich, Vizekanzler Golowkin, Präsident Mengden, Oberhofmarschall Löwenwolde und Staatsrat Dimirasow.

 

Beim Blutgerüst angekommen, wurde Ostermann von vier Soldaten hinaufgetragen und auf einen Holzstuhl gesetzt. Als der Senatsschreiber das Urteil verlesen wollte, entblößte er das Haupt. Mit Gelassenheit hörte er hin. Er sollte geköpft und dann gerädert werden. Nur einigemale sah er auf und schüttelte er den Kopf. Was er sagen wollte, verstand jeder. Dann streckten ihn die Soldaten mit dem Gesicht erdwärts, entblößten den Hals und legten ihn auf den Block. Als der Henker mit dem Beil zum Schlagen ausholte, rief der Senatsschreiber: „Gott und die Kaiserin schenkten die das Leben!“ Während der ganzen Zeit nahmen die Umstehenden an dem greisen Staatsmann keinerlei Verwandlung wahr; nur habe er, als er vom Block aufgerichtet wurde, etwas mit den Händen gezittert. Die Soldaten trugen ihn jetzt wieder in seinen Schlitten. Von den übrigen Angeklagten brauchte keiner das Blutgerüst zu besteigen. Für alle lautete das Urteil auf Tod, umgewandelt „aus angeborener Gnade“ in Verbannung. Der Pöbel fand nicht recht seine Rechnung; viele Russen, auch in höheren Schichten, waren doch sehr nachdenklich geworden. Der sächsische Legationsrat Pezold, der die Vorgänge auf und beim Blutgerüst von seinem Fenster aus beobachtet hatte, und daher aus eigenem darüber berichten konnte, schloß seinen Bericht mit den Worten, daß er zeitlebens noch nichts Trübseligeres gesehen habe. Man dürfe in der Tat wohl sagen, daß Ostermann und Münnich mit Löwenwolde die ausgezeichnetsten Männer gewesen seien, die Rußland je in Diensten gehabt habe.

 

Das Vermögen der Verurteilten wurde eingezogen und unter die Machthaber verteilt. Bald sollten die Schlitten mit den Verbannten nach Sibirien sausen. Den Frauen war freigestellt, ihre Männer nach Sibirien zu begleiten. Ostermanns Gemahlin, Marfa Streschnew, entschied sich dafür, mit ihrem Manne das traurige Los zu teilen. Dann nahm der Graf Abschied von seinen drei Kindern; er sollte sie nicht mehr wiedersehen. Zu seinem Aufenthalt war Beresow (= Birkenort) bestimmt, in kalter Oede an der Soßna 40 Kilometer vor ihrer Mündung in den Ob gelegen. Dort war Menschikow in der Verbannung gestorben. Münnich kam nach Pelym, wo er das Häuslein bewohnte, das dem nun zurückgerufenen Biron gedient hatte. Jedem Staatsgefangenen wurde zum täglichen Unterhalt ein Rubel ausgesetzt; die Bedienten mußten mit 10 Kopeken auskommen. Rühmlich verdient bemerkt zu werden, daß diese freiwilligen Gefangenen ihre Sparpfennige aus guter Zeit opferten, um ihren ehemaligen Herren das harte Los zu erleichtern.

 

In Petersburg macht man Jagd auf alle Schriften, die Rühmliches aus dem Leben der Verbannten berichtet hatten; das deutsche Vaterland sah gerechter als die Fremde und hoffte auf baldige Begnadigung Elisabeth dachte nicht daran. Und doch: „Die schwere Aufgabe, eine große, aber noch ungebildete Nation zu einem geordneten Staatswesen zu erziehen, hatte nur einer im Auge, Ostermann, und die Erzählung von den elenden Richtigkeiten, die vorzugsweise in dieser Zeit die russische Geschichte erfüllen, läßt überall im Mittelpunkt des Ganzen nur diesen einen Staatsmann hervortreten, der als Mann der Notwendigkeit von allen gesucht, es allein verstand, die losen, fast in der Auflösung begriffenen Teile des noch so jungen Staates zusammenzuhalten.“ Daß macht blind.

 

Graf Ostermann überlebte seinen Sturz noch fünf Jahre. Ein altes Beinleiden fesselte ihn ans Zimmer, das ihm oft wegen der ständigen Soldatenwache schier zu enge wurde. Dann ließ er sich wohl auch in das Holzkirchlein tragen, das Menschikow erbaut hatte, um wenigstens zeitweise vor den verdrießlichen und lärmenden Soldaten Ruhe zu haben. So waren die Jahre in Beresow nur noch ein Warten auf den Tod. Körperlich gebrochen, aber seelisch gefaßt und ruhig, starb er am 25. Mai 1747.

 

Das war das Ende eines Staatsmannes, am und vom russischen Dank zerbrochen, dessen überragende Verdienste kein Fremdenhaß wegstiefeln, dessen sittlichen Charakter keiner antasten konnte. Seine Freude an Arbeit und Erfolg, kein Schaffen nach Plan und Ausrichtung über Augenblickssicht hinweg mochte man nicht begreifen und noch viel weniger nachahmen, um so schlimmer in einem großen Lande, das kein Gesicht gen Europa kehren sollte und noch viel zu asiatisch roh war, europäische Lebensformen und Staatsforderungen mit quickem Blut zu füllen. Man haßte das Orakel, aber man fragte es. Man liebte den verantwortungsbewußten Diener am Reich nicht, aber man ließ ihn sich aufreiben. Zugeknöpft von der Heimat her, hatte ihn die Fremde mit ihren Stürmen um den Thron, mit dem Steigen und Stürzen der Großen und den ständigen Fehden all derer, die ihren Topf auch ans Feuer stellen wollten, noch verschlossener gemacht. Mit westfälischer Zähigkeit stand er zu einmal übernommenen Aufgaben und Pflichten, nicht so sehr ein Mann des offenen Angriffes und des lauten Stürmens von der Art des wilden Draufgängers, wohl aber des verbissenen Wehrens und des unbedingten Durchhaltens. Er diente eidgemäß in deutscher Treue und Redlichkeit. Größe mißt man nicht an Kleine. Mag auch bei ihm wie immer da, wo sich Höhe über Sieches und Seichtes reckt, Menschliches, Allzumenschliches zwischen Morgen und Abend zu verzeichnen sein – leuchtend bleibt darüber stehen:

 

„Er war unbestechlich.“

Und eine alte Sage weiß: schon vor tausend Jahren hat das ferne Land zwischen Europa und Asien nach fremden Herrschern suchen lassen, weil es nur zu wählen hatte zwischen fremder und keiner Ordnung.

 

Von den Nachkommen des Grafen Ostermann

 

Ostermanns älterer B r u d e r Johann Christoph Dietrich war in Rußland Kanzleirat geworden, später mecklenburgischer Gesandter in Petersburg. Weil er kein Gehalt bezog, setzte Anna I. ihrem früheren Lehrer aus Dankbarkeit monatlich 300 Rubel aus. Eine besondere Rolle spielte er in Rußland nicht, weshalb er beim Sturze seines Bruders glimpflich wegkam. Als er 1742 des Landes verwiesen wurde, ging er in seine Heimat zurück und lebte eine Zeitlang bei Verwandten auf Haus Bönninghausen in Eickel und dann im Werdenschen, wo er um 1760 starb. Die S ö h n e Ostermanns, am Vater gemessen, waren wenig bedeutend. Graf Feodor Andrejewitsch wurde beim Sturz Ostermanns vom Kapitain der Garde zum Hauptmann bei der Feldarmee degradiert. Später stieg er wieder auf, wurde Generalleutnant und Gouverneur von Moskau und auch Ritter des Alexanderordens. Außergewöhnliche Talente bewies er nicht, auch nicht, als er Geheimer Rat wurde. Graf Iwan Andrejewitsch, Ostermanns zweiter Sohn, wurde 1742 gleichfalls von der Garde zum Feldheer versetzt. Noch unter Elisabeth wurde er Gesandter in Stockholm. Seine Nachrichten aus Schweden waren sehr brauchbar, er hatte gute Mitarbeiter. 1775 wurde er heimberufen, kam in den Geheimen Rat und wurde Vizekanzler. Von 1781 ab leitete er die auswärtigen Angelegenheiten, wenigstens dem Namen nach. So ehrenhaft er auch war, ein Diplomat war er nicht, und die russische Politik machten tatsächlich andere, u. a. auch die Teilung Polens. Als er endlich abtrat, war er ein zerfallener Mann.

 

Die einzige T o c h t e r Ostermanns, Anna Andrejewna, heiratete den Obristleutnant Matwej Tolstoi, der es bis zum General der Artillerie brachte. Der Sohn dieser Ehe, Iwan, vermählte sich mit einer Bibikow aus einem zwar vornehmen, aber unbegüterten Geschlecht. Aus dieser Ehr ging Alexander Iwanowitsch hervor, der sich schon als junger Offizier auszeichnete. Er gewann die besondere Zuneigung seiner Großoheime Feodor und Iwan, die ihn zu ihrem Erben machten und von Katharina II. die Erlaubnis erwirkten, daß er sich Alexander Graf Ostermann-Tolstoi nennen durfte. Jetzt selber reich geworden, heiratete er eine gleichfalls begüterte Fürstin Galitzin . Er war Generalmajor geworden, als ihm wie allen Ostermanns die Kaiserliche Gunst zeitweilig entzogen wurde. Nach vorübergehender Beschäftigung als Staatsrat durfte er wieder ins Heer eintreten und kämpfte 1806/07 als Generalleutnant unter Benningsen. 1807 wurde er bei Deppen schwer verwundet und schied bald aus dem Heeresdienst aus. Bei Hofe war der offene und freimütige Mann wenig beliebt. Dann kam 1812. Ostermann-Tolstoi kommandierte ein Armeekorps und stellte seinen Mann bei Ostrowno und Borodino. Er war mit im Kriegsrat, der den Brand Moskaus beschloß. 1813 wurde er bei Bautzen nochmals schwer verwundet. Kaum genesen, eilte er wieder zur Armee und schlug Bandamme Ende August bei Kulm. Damit sprengte er die drohende Umzingelung der Verbündeten, bezahlte aber den ehrlich verdienten Ruhm mit dem Verlust seines linken Armes, so daß er an den weiteren Kriegszügen nicht mehr teilnehmen konnte. Ostermann-Tolstoi trug schwer daran, daß Rußland seine Verdienste nur karg lohnte; erst 1817 wurde er General der Infanterie. Darum auch verließ er sein Vaterland und unternahm große Reisen. 1834 bezog er eine Villa am Genfer See. Er erlebte noch, daß ihm bei Kulm ein Denkmal errichtet wurde. Spät, aber endlich hatte Rußland auch für ihn das blaue Band des Andreasordens. In Petit-Saconner starb der ehrlich-offene und tapfere General, ohne Kinder zu hinterlassen. Den Mitnamen Ostermann nahm ein Zweig des Hauses Galitzin an, den zur Zeit ein Fürst in Paris führt.

 

Staatsrat Heinrich Huyssen

 

Der S. 6 erwähnte Heinrich Huyssen stammte aus Essen. Er war ein Sohn des Heinrich Huyssen und der Helene Sölling. Letztere war eine Tochter jenes Dr. Johann Sölling, der in zweiter Ehe mit Ursula Margarete Wittgenstein verheiratet war, der späteren zweiten Frau des Bochumer Pfarrers Johann Konrad Ostermann.

 

Heinrich Huyssen besuchte das Gymnasium in Dortmund und dann eine Reihe Universitäten, u. a. auch Straßburg, Genf und Wien. Dann war er zwei Jahre lang Erzieher der Kinder des Freiherrn Eberhard v. Dankelmann. Später war er in Wien tätig. Der gelehrte Mann, Doktor beider Rechte, wurde von Patkul, dem für Peter I. tätigen Livländer Edelmann, für Rußland gewonnen. Huyssen trat um 1702 in russische Dienste und wurde zunächst Erzieher bei Hofe. Er war der Verfasser einer Gegenschrift zur Schrift des Danzigers Neugebauer über Peter I. 1710 finden wir ihn am Braunschweiger Hofe, wo er für Peters Sohn Alexjej bei der Prinzessin Charlotte den Freiersmann machte; Charlottens Mutter war eine Schwester Kaiser Karls VI.

 

Auch Huyssen behielt Verbindung mit der Heimat. Sein Neffe Andreas Arnold gedachte ihn in Petersburg zu besuchen und starb 1729 in Reval. Warum Huyssen 1735 aus dem russischen Staatsdienst entlassen wurde, ist nicht klar. Zur Heirat war er nicht gekommen. Gleich Ostermann hatte er in der Fremde kein sonderliches Vermögen erworben. Als ihm der österreichische Gesandte bei der Kaiserin Anna neben Ersatz vieler baren Auslagen noch einen ansehnlichen Ueberschuß erwirkte, wurde ihm das Geld – gestohlen.

 

1739 wollte Huyssen nach Deutschland zurückkehren, wurde aber auf dem Schiffe krank und starb in den Armen eines aus Petersburg mitgekommenen Arztes. In der Marienkirche in Helsingöer liegt er begraben.

 

Ein Bruder dieses Heinrich Huyssen, Johann, war der Ururgroßvater jenes Heinrich Arnold Huyssen, auf den die Huyssen-Stiftung in Essen zurückgeht.

 

Bernhard Heinrich Steinweg

 

Die Witwe des Dr. Sölling brachte dem Pfarrer Ostermann eine Tochter, Katharina Maria, mit in die Ehe. Diese verheiratete sich mit Bernhard Heinrich Steinweg in Schwelm. Aus dieser Ehe stammte der spätere Gogräfe (Richter) Bernhard Heinrich Steinweg, der eine Luise Katharina Huyssen heimführte. Er hatte Rechtswissenschaften studiert. Kaum von der Universität heimgekehrt, wurde er wegen seiner Größe zu den Soldaten geholt. Durch Vermittlung Ostermanns in Berlin kam er wieder frei und wurde 1726 Richter in Schwelm. Steinweg verwaltete Ostermanns Vermögen in der Bochumer Gegend, und weil Ostermann mehrere Jahre keine Rechnungslage verlangte, war Steinweg in der Verwaltung etwas schleppend geworden. Um 1732 wies Ostermann die Gebrüder Jäger auf dem Birgen zwischen Lennep und Wermelskirchen – sie trieben Wienhandel und versorgten auch Ostermanns Keller in Petersburg – mit einer Rechnung an Steinweg. Als dieser um Ausstand bat, berichteten die Gebrüder Jäger nach Petersburg. Ostermann geriet in Eifer, wandte sich nach Berlin und erreichte, daß Steinweg aus dem Amte kam. Nach Jahresfrist konnte Steinweg bezahlen und erhielt seine Stelle wieder.

 

Anna Leopoldowna und Anton Ulrich

 

Das Schicksal Anna Leopoldownas und Anton Ulrichs war besonders hart und traurig. Iwan, der Kaiser in der Wiege, wurde bald von seinen Eltern getrennt. Ob der in der Feste Schlüsselburg 1764 getötete blödsinnige „Gregor“ tatsächlich das ehemalige Kind auf dem Throne war, steht nicht durchaus fest. Anna Leopoldowna schenkte in der Gefangenschaft in Gholmogory südlich von Archangelsk noch drei Kinder das Leben. Drei ihrer Kinder trugen an der Erbschaft ihrer Mutter, die eine Enkelin Iwans V. war, des schwachsinnigen Halbbruders Peters I. . Von den 1780 nach Dänemark verbrachten Kindern starb das letzte 1805. Ihre Mutter war schon 1746 in der Oede der Gefangenschaft gestorben. Anton Ulrich, der nicht bloß bei Ranke schlecht wegkommt, zeigte in der Gefangenschaft weit mehr Haltung, als ihm zugetraut worden war. Vorzeitig erblindet, starb er erst 1774.

 

Impressum

1938 Bochum Ein Heimatbuch

 

Herausgegeben im Auftrag der Vereinigung für Heimatkunde von B. Kleff

 

Druck und Verlag

Märkische Vereinsdruckerei Schürmann & Klagges

4. Band

 

 Bochum 1938

 

(Zitierhinweis 2012)

Bernhard Kleff, Hg.: Bochum. Ein Heimatbuch. Bochum 1938. Bochumer Heimatbuch Bd. 4