Ein Baum im Betonschacht.

 

Kurt Dörnemann

 

Es war vor ein paar Jahren. Unter den steinernen Riesenpilzen der Wohntürme, zwischen Häuserkästen, Treppen und Plätzen im Einkaufszentrum der Ruhr-Universität stand ich plötzlich vor einer niedrigen Mauer. Sie umschloß ein mächtiges Loch, zehn Meter im Durchmesser. Ein Schacht. Aus seiner Tiefe stieg ein Baum empor. Er war, ein Stockwerk unter mir, in Erde gesetzt worden. Gärtner hatten ihn nach allen Regeln der Kunst beschnitten. Mit kurzgehauenen Ästen, dünnen Trieben an den Spitzen, ragte er zu mir auf. Ich dachte: Schön, wenn er wirklich blühen, eine grüne Krone bekommen würde, dieser Rebell gegen die Zeichen der neuen Macht in Bochums Stadtlandschaft: die Burgen aus Beton.

 

Vor zwanzig Jahren zogen wir am Dornbusch in die siebte Etage eines neuen Hauses. Durch das Küchenfenster sahen wir im Frühjahr auf einen weißgefleckten Teppich: Obstbaumkronen in einer bunten, großen Schrebergartenanlage. Jetzt lagert auf dem Gelände der hellgraue Block eines Altersheims.

 

Von meinem Arbeitszimmer blickte ich, vorbei an zwei modischen Einfamilienhäusern, auf grüne Getreidefelder, braune Äcker. Da stehen jetzt die schon eingedunkelten Trakte einer Gesamtschule, inmitten von Plätzen, Stiegen und Zugangsstraßen, die mit grauen Platten belegt sind. Wandgestaltungen und Freiraum-Skupturen, bemalt mit mexikanisch wirkenden Farben, Rot, Blau, Gelb, setzen fröhliche Leuchtstriche in die Schulwelt.

 

Besucher führten wir gern auf den kleinen Balkon. Wir zeigten ihnen, über rötliche Hausdächer hinweg, wie sich am Horizont die bewaldeten Hügel von Querenburg buckelten. Wie links hinter ihnen im Dunst der Schatten des Hohensteinberges bei Witten sich wölbte. Darin tauchte an klarsichtigen Tagen ein orangefarbener Fleck auf: der Steinbruch, der unterhalb des Berger-Denkmals in das Ruhrtal abstürzt. Die Ferne ist verschwunden. Heute wird die Skyline gebildet von schlank emporschießenden oder breit daliegenden, vieläugigen Kästen der Wohnsiedlungen, Studentenheime und Institutsbauten der Universität. Nachts zieht eine Lichterschnur tief am Himmel ein Bumerangzeichen, von rechts nach links – die Universitätsstraße.

 

Altersheim, Schulbau, Hochschule, ein breites Verkehrsband – vier gute, wichtige, notwendige Werke. Mir haben sie Obstbäume, Ährenfelder – Haubenlerchen stiegen über ihnen empor – und ferne Waldberge zugedeckt. Die fehlen mir sehr. Für die Veränderung, die das Leben in Bochum in zwei Jahrzehnten umgeprägt hat, gibt es viele Zeichen wie diese. Da sind etwa die erweiterten Fußgängerzonen bei der Kortumstraße. Dann die zahlreichen Boutiquen – erstaunlich viele auch für modebewußte Männer – zwischen diesem Einkaufszentrum und dem Bahnhofsviertel mit seinen Bars, Diskotheken und Imbißstuben. Die Gegend ist vor allem Treffpunkt der Jugend und der ausländischen Arbeitnehmer geworden.

 

Mädchen und Jungen im Phantasielook und die Zuwanderer, die Ahmed, Luigi, Boris oder Julika, Juana heißen, haben nicht nur das Erscheinungsbild der Passantenmenge gefärbt. Sie stellen für Läden, Kaufhäuser und Supermärkte einen beträchtlichen Käuferteil derer, die das Angebot auf den Theken wie in den Schaufenstern beeinflussen.

 

Geschäftstüchtige, fleißige Leute aus Mittelmeerländern bestimmen sogar in nicht unwesentlichem Maß, was Bochumer essen und trinken. Es begann einst mit dem Vormarsch der italienischen Eisverkäufer. Die Eröffnungen einzelner Restaurants mit Küchenkünsten aus Ostasien folgten. Nun sind südländische Gastronomen (mit Personal aus ihren Heimatländern) dabei, weitere Positionen im Gastwirtsgewerbe zu erobern. Beispiel: von acht Lokalen dicht beim Bochumer Schauspielhaus stehen fünf unter italienischer, bulgarischer, jugoslawischer Leitung. Einst liebten Bochums Bewohner nur Bier und Korn. Sie stellten selten, bei feierlichen Anlässen, Weinflaschen auf den Tisch. Heute sieht man in den Gaststätten Pärchen und Freundeskreise bei Chianti und Orvieto, bei Plavac und Samos am Tisch – ja, natürlich auch beim Whiskytrinken. Sogar in der kleinen Kneipe an der Ecke. Den Anstoß zu solchen neuen Verzehrsitten mögen bisweilen Urlaubserlebnisse gegeben haben. Der Massentourismus hat, wie überall in der Bundesrepublik, auch in diese Stadt Vorlieben für Gerichte und Getränke aus fernen Ländern importiert. Die Gastronomen aus anderen Breiten haben aber noch etwas verändert – tupfenweise. Sie dekorieren ihre Lokale gern farbenfroh mit Kitsch und Kunst aus ihrer Heimat. Nicht nur wegen der erwähnten Urlauber, sondern auch wegen ihrer nun bei uns arbeitenden Landsleute. So ist die schlichte Bochumer Kneipe mit der Stehtheke wohl noch immer Ort der Begegnung der großen Masse der Alteingeführten bunten Häusern mit Bartheke und Hockern davor eine internationale Konkurrenz bekommen.

 

In diesen Lokalen ist das Publikum vorwiegend jung – wohl auch, weil die Besucher in ihnen fast immer aus Musikautomaten oder anderen Quellen mit mehr oder weniger dezenter Unterhaltung erquickt werden. In dieser Beziehung ist Bochum überhaupt lauter geworden. Kein Kaufhaus, kein Kleiderladen, in dem nicht Modisches vom Band erklingt. Sogar in meinem altrenomierten Schuhgeschäft – 100jährige Tradition – muß man sich seit dem Tod der alten Dame des Hauses mit erhobener Stimme unter Beatmusik – oder während Nostalgisches dahinweint – über die zu klein ausgefallene Nummer 39 oder die abgetretenen Absätze von Nummer 40 unterhalten.

 

Junge Frauen und Männer brauchen in unserer Stadt, man sieht’s bei jedem Bummel, keine Vorbilder a la Yves Saint Laurent oder Coco Chanel – sie schaffen sich selbst ihre Kreationen. Zwischen schick, toll, irre und Fummel. Manchmal sieht man, daß diese Modeschöpfer auch voneinander was abgucken; ganz wie die Großen in Paris. Was ist noch anders geworden im Leben dieser Stadt? Natürlich der Verkehr; er wird immer gräßlicher. Jede Bochumer Oma und jeder Opa denken gleich daran, daß einst ein paar Schupos für ihn genügten. Allerdings kam noch ein Prunkstück hinzu: An dünnen Eisenseilen schaukelte über dem Kreuzungspunkt Kortumstraße/Bongardstraße eine Verkehrslaterne. Das Ding hatte auf jeder seine vier Seiten ein in rote und grüne Felder aufgeteilte Kreisbahn, über die gemütlich ein Zeiger wanderte und mit solchem Tun die Autofahrer disziplinierte. Heute steht man in der Innenstadt immer wieder vor umgitterten Riesenlöchern für U-Bahn-Stationen und Tiefgaragen, an deren Rändern viele Leute mit oder ohne Zeit gern den Zwergen und Maschinen in den Tiefen zuschauen. Und man erfreut sich der parkenden Autos, die wie Krätze die Bürgersteige befallen.

 

Unter den Passanten begegnen einem viele Südländer. Links und rechts: knallfarbige Kneipenschilder und die Zeugen für neue Eß- und Trinkgewohnheiten, Currywurst mit Pommes frites statt Frankfurter mit Brötchen. Aber die Reibekuchen, die Reibekuchen – die halten sich noch wacker!

 

Die Künste. Da ist das Theater, auf dessen Szenen neben großer Klassik viel Gesellschaftskritik geboten, aber auch Geschlechter- und Generationenkämpfe mit wild-freien Bildern herausgeschrieen werden – o, seliger Saladin. Dann der lang hingeklotzte Museumsbau beim Eingang des Stadtparks. Als ich neulich auf das jüngste Schmuckstück der Stadt Bochum zuging, fiel mir ein: Wie war es doch, damals?

 

Damals, im Jahr 1946, als einige Bochumer Maler, Graphiker und Bildhauer ihre Arbeiten im Lichthof, dem unzerstörten Teil des Bergbaumuseums zeigten? Und glücklich über diese Möglichkeit waren.

 

Damals, 1947, als der wiedergegründete Bochumer Künstlerbund in zwei Zimmern einer Etage des notdürftig zurechtgeflickten Kaufhauses Baltz seine ersten Ausstellung nach dem Krieg eröffnete? Und begeistert vierzehn Jahre nicht geübte Malweisen präsentierte.

Damals, 1951, als die Herren über Pinsel, Palette, Stichel und Meißel ein paar verwinkelte Räume im ehemaligen “Hotel Metropol” an der Drehscheibe bezogen und Heinrich Döhmann dort die frühen städtischen Kunstausstellungen nach dem Krieg veranstaltete?

 

Und damals, als die Kämpfer für die Kunst diese aus solcher kümmerlicher und schlecht beleuchteten Unterkunft herausholen und für sie die “Villa Nora” an der Bergstraße beschlagnahmen wollten? –Je nun, im Jahr 1960 gab es endlich die Eröffnung des Museums der Stadt in der ehemaligen “Villa Markhoff” beim Goetheplatz, - es lebe Stadtrat Dr. Ronte. Die Zeit des Nomadisierens war vorüber, das Siedeln der Kunstjäger, auch Kunstjünger, und ihrer Eroberungen fing an.

 

Prompt begann auch der Streit um den besten modischen Schnitt der Denkmäler, der Rüstung des Graf Engelbert und der Ausrüstung von Fritz Kortebusch (mit Spitz oder ohne?). Als die beiden schließlich friedlich in der Stadtarchitektur herumstanden, wer erschien – zunächst am Horizont (bei der Dokumenta in Kassel), und dann urplötzlich auf dem Gelände vor dem Bahnhof – aber ja, das Terminal.

 

Auch die Art, wie diese drei Monumente in die Stadtlandschaft eingezogen sind, wie sie sich dort behauptet haben oder wie sie übersehen werden, kann man als Zeichen neuer Verhaltensweisen der Bewohner dieser Stadt werten.

 

Vor zwanzig Jahren besaß Bochum – aus Trümmern und Schutthaufen blitzblank aufgebaut – noch etwas von der seiner Bürgerschaft eigenen, zäh sich behauptenden Kraft, die half, die Folgen des Zechensterbens zu überwinden. Mit der Opel-Ansiedlung und einer gerade beschlossenen Universitätsgründung marschierten die Bewohner in eine Zukunft, die in der einstigen Kohle-Eisen-Bier-Stadt keiner vorausgesehen hatte.

 

Sie war auch wieder heiter geworden, diese Stadt, hatte eine überschaubare Stadtkultur, sogar manches von einem behäbigen Lebensstil früherer Jahrzehnte vor dem Krieg zurückgewonnen. Es war eine Zeit, in der viele Menschen noch viele Menschen kannten. Das ist vorbei.

 

Ist vorbei wie das Bild einer Sternstadt, das Bochum in den 60er Jahren bot. Vom Zentrum der Innenstadt liefen wenige breite Verkehrsbahnen los, die durch weitgehend unbebautes oder landwirtschaftlich genutztes Gelände hinauszogen zu Stadtteilen wie Linden, Stiepel, Querenburg, Langendreer, Gerthe, Harpen. Sie banden diese Ortschaften (mit einem kräftigen Eigenleben) an die Stadtmitte. Die Räume zwischen Stadtkern und “Satelliten”, längs und zwischen den großen Straßen, sind inzwischen mehr und mehr bebaut worden. Wohnblock um Wohnblock, Siedlung um Siedlung wuchsen auf. Immer neue Straßenbänder legten sich über Felder und Wiesen, ließen Wäldchen verschwinden. Nicht nur im Universitätsbereich. So ist denn viel vergangen von dem, was noch vor zwei Dutzend Jahren an Umwelt um die Innenstadt vorhanden war. Nur einzelne schwarzweiße Bergmannskotten aus dem 19. Jahrhundert haben sich im Weichbild der Stadt erhalten. Da bin ich froh, daß der Bauernhof in Laer, auf dem wir unsere Eier holen, noch genügend Land besitzt. Wie lange?

 

Was aber den Baum im Betonschacht betrifft, den Baum, der im steinernen Teppich des Einkaufsviertels der Universität aufragte, auf der Querenburger Höhe -; als ich ihn zum ersten Mal sah, fiel mir ein: Ob sich wohl ein Vogel findet, der in ihm sein Nest baut? Ich meinte, dem Vogel sollte der Rektor der Universität einen Ehrendoktor-Hut verleihen. Für Verdienste im Kampf Natur gegen Beton.

 

Vor ein paar Tagen habe ich nachgeschaut. Der Baum ist prächtig gewachsen, er trägt jetzt eine breite Krone. Ein Vogelnest ziert ihn nicht. Die Universität hat ihn gespart, den Ehendoktor-Hut. Doch merke für das Jahr 2085: “Eine 100jährige Buche mit einer Höhe von 25 Metern (Kronendruchmesser 15 Meter) produziert je Stunde 1,7 Kilogramm Sauerstoff unter Verbrauch von 2,35 Kilogramm Kohlendioxyd. Ein solcher Baum deckt den Jahres-Sauerstoffbedarf von 10 Menschen. Wird diese alte Buche gefällt, müßten, um den gleichen Funktionswert zu erhalten, 2500 junge Bäume mit einem Kostenaufwand von (heute) ca. 25.000 DM gepflanzt werden.” (Programm “Aktion pro grün”.)

 

Impressum

1985 Bochumer Heimatbuch

 

Band 8

 

Herausgegeben von der Vereinigung für Heimatkunde Bochum e.V.

 

Verlag:

Schürmann & Klagges

 

Titelbildgestaltung:

„Schorsch-Design®" Georg Wohlrab, Heusnerstraße 17, Bochum

 

Gesamtherstellung:

Druckhaus Schürmann & Klagges,

 

Bochum ISBN-Nr. 3-920612-06-X