Ursula von Kemnade

 

August Weiß

 

Vor mehr den 300 Jahren bewegte das Schicksal eine Edelfräuleins aus Kemnade auf lebhafteste die Gemüter im nahen und fernen Umkreis. Eine Höfe-Fee mußte wohl an der Wiege dieses Menschenkindes, das altem Adelsgeschlechte entstammte, gestanden haben. Nach sonniger Kindheit im traulichen, ehrwürdigen Herrenhaus an der Ruhr geriet das adelige Mädchen auf die Landstraße und sank in die unter Gesellschaftsschicht hinab. Die Tür des Elternhauses blieb ihm dauernd verschlossen, und nicht einmal sein Name durfte am väterlichen Herd und im Kreise der nächsten Verwandten genannt werden. In den Adelshöfen ringsum zuckte man verächtlich die Achseln über das Gebaren der sonderbaren Kemnaderin. In Stiepel und Herbede, in Hattingen und Bochum erregten sich die Leute über das Geschick der ehemaligen Baronin, indem sie teils für, teils gegen sie Partei nahmen. Die hohe Obrigkeit sah sich genötigt, in die Angelegenheit einzugreifen. Der Bochumer Droste Jost von Aschebroik fand es gar nicht ungelegen, sich mit der Sache zu befassen, und mit derselben Energie, mit der er die Herrschaft auf Kemnade bekämpfte, setzte er sich für die Verstoßene ein. Die Räte der Regierung in Kleve verschrieben viele Bogen Papier und faßten manchen Entschluß in den sich zu einer kleinen Staatsaktion auswachsenden Händeln. Endlich aber zog der höchste Gerichtshof des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das Reichskammergericht in Speyer, die Sache des früheren Edelfräuleins aus Kemnade vor sein Forum und beschäftigte damit lange Jahre seine Protonotare und Advokaten. Die reitenden Boten aus Speyer trugen Vorladungen der enterbten Baronin wegen im Lande herum, namentlich nach Kleve und Bochum.

 

Es war U r s u l a v o n d e r R e c k, die durch ihre Liebes- und Lebensschicksale zu so merkwürdiger Berühmtheit gelangt ist und ihren Namen für immer in die Kammergerichtsakten eingeschrieben hat. Sie gehörte der Familie an, die 200 Jahre lang die Gerichtsherrlichkeit Stiepel geleitet und stets in Ehren auf Kemnade Hof gehalten hatte, seitdem 1414 Hermann von der Reck nach einer Pilgerfahrt ins heilige Land in die damals schon alte Wasserburg an der Ruhr eingezogen war. Nur wenige märkische Adelsgeschlechter konnten sich mit denen von der Reck zu Kemnade messen, die mit fast landesherrlicher Gewalt die Reichsunterherrlichkeit Stiepel regierten und sich nach außen hin weitgehender Unabhängigkeit erfreuten. Dem Herzog von Kleve hatte das Geschlecht im 16. Jahrhundert in dem wackeren Wennemar von der Reck einen tüchtigen Drosten auf Blankenstein gestellt. Mit Nachdruck führten die Stiepeler Gerichtsherren alle Zeit das Wort auf den märkischen Landestagen. Die benachbarten Adelsherren hatten oft voll Neid auf die Barone zu Kemnade geschaut. Und nun sollte kurz vor dem Erlöschen des Geschlechts von der Reck ein dunkler Schatten auf das Haus fallen, der die Familienehre und politische Macht gefährdete und den Besitz zu verkleinern drohte.

 

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts waltete Kort von der Reck, der letzte katholische Grundherr auf Kemnade, seines Amtes als Gerichtsherr von Stiepel. Er war ein Enkel des Blankensteiner Drosten Wennemar. Nach dem frühen Tode seines Vaters Dietrich stand Kort noch einige Zeit unter der Vormundschaft seiner Mutter Katharina von Elverfeld, die in der benachbarten Wasserburg Herbede zu Hause war. Aus dem Geschlechte derer von Quadt holte sich der junge Standesherr Kort die Lebensgefährtin. Das Glück des Hauses Kemnade schien aufs neue begründet zu sein, als der Ehe Korts der Erbbaron Wennemar entsproß und sich bald eine Schwester hinzugesellte, die den Namen Ursula erhielt. Aber doppeltes Unheil zog heran.

 

Zunächst wurde dem Wohlstand des Hauses ein furchtbarer Schlag versetzt. 1589 brannte die kleine, uralte Wasserburg Kemnade ab. An einen Aufbau des Adelssitzes war zunächst nicht zu denken; dazu reichten die Barmittel nicht aus. Dann rückten, es war 9 Jahre später, die Spanier unter dem Admiral Mendoza in Kleve-Mark ein und brandschatzten auch das Land an der Ruhr; auch Stiepel und Herbede hatten unter den Fremden viel zu leiden. Notbau zu Kemnade bot für längere Zeit der Familie Korts von der Reck eine wenig standesgemäße Unterkunft.

 

Schwerer aber lasteten Sorgen und Kummer auf Kort und den Seinen, die aus dem eigenen Kreise aufstiegen. Die Tochter Ursula zeigte ein gar zu lockeres Wesen. Um ihren Sinn zu bessern, schickten sie die Eltern in das Kloster Greverath. Aber die ernste Klosterzucht ertrug das Edelfräulein noch weniger als die Ermahnungen der Eltern und die Vorhaltungen des Bruders Wennemar. Sie entwich den Klostermauern, geriet auf die Landstraße und schloß sich einem hausierenden Krämer mit dem Namen Clemens Nagel an. Mit Entsetzen vernahmen die daheim in Kemnade die Kunde von Ursulas Führung. Eltern und Geschwister, die ganze von der Recksche, Quadtsche und Elverfeldsche Verwandtschaft bat und beschwor die Unselige, auf den Pfad der Zucht und Ehrbarkeit zurückzukehren. Umsonst! Ein Bote überbrachte der Wandernden die Androhung der Enterbung. Vergeblich! „Ihr sangen und logen die tausend Stimmen im Grund, verlockend Sirenen, und zogen sie in der buhlenden Wogen farbig klingenden Schlund“. In Verblendender Leidenschaft ließ Ursula nicht ab von dem Mann, „dem zu ihrem Stande ganz und gar unpassenden Kerl“. Nach Kemnade drangen immer neue Gerüchte über ihre vielfache Ungebühr. Sie wanderte mit dem Krämer Nagel landaus, landein, von Westfalen nach dem Rhein und wieder zurück. Der Bund fand irgendwo die kirchliche Einsegnung. Von der Nagelin erzählten sich die Leute in den Herbergen und an den Stadttoren. In Kemnade aber war Ursulas Name fortan ausgelöscht. Sie galt der gesamten adeligen Verwandtschaft als der Schandfleck.

 

Kort von der Reck machte von dem im alten Deutschen Reiche geltenden Rechte Gebrauch, daß „eine Tochter, selbst wenn sie keine strafbare Handlung getrieben, sondern nur schuldig wäre, vor ihrem 25. Lebensjahr ohne Zuziehung und Gutheißung der Eltern sich in den ehelichen Stand begeben zu haben, enterbt werden kann.“ In einem Familienrate der Familie von der Reck und von Quadt wurde Ursula Nagel von jedem Erbe ausgeschlossen. Kort legte den Beschluß in seinem Testament mit aller Schärfe fest. Der Kummer begleitete ihn bis in Grab.

 

Inzwischen war auch der Krämer Clemens Nagel nach einem unruhigen Dasein gestorben. Das einst so übermütige Edelfräulein von Kemnade stand als Nagels Wittib allein in der Welt. Sieben Kinder waren zu versorgen oder eigentlich nur sechs; den der älteste Sohn hatte bei Kamen ein kleines Besitztum erworben. Bald darauf starb eins der jüngeren Kinder. Mit den anderen fünf lebte die unglückliche Mutter in bitterer Armut. Sie hielt sich im Bochumer Bezirk auf. Um ihrer Kinder willen entschloß sie sich zu einem schweren Gang. Ueber Stiepel wanderte sie ins Ruhrtal hinunter und pochte in Kemnade bei ihrem Bruder an. Aber Wennemar von der Reck wies der Uebelbeleumdeten die Tür. Stilles, stolzes Ertragen des selbstverschuldeten Elends und stolze Zurückhaltung lag nicht in der Natur Ursulas, die die untersten Tiefen des Lebens durchschritten und die schmutzige Hefe des Daseins gekostet hatte. Auf dem Heimwege schmähte sie ihren Bruder vor seinen eigenen Untertanen. „In Stiepel hat sie ihm ohnmächtig Geschmier und Geplärr angedichtet. Sie wünsche, daß sie weniger Unehr und böse Nachrede von ihm hören müsse als er von ihr. Er hätte sich selbst in Stiepel vor Schand und Unreinigkeit zu hüten, damit nicht das Sprichwort an ihm wahr werde: Hoffart kommt vor dem Fall.“ Aber was half es der Unglücklichen, daß sie ihren Bruder und die übrige Verwandtschaft mit Schmutz bewarf? Ihre und ihrer Kinder Bedrängnis wurde dadurch nicht gelindert.

 

Als Eingesessene der Grafschaft Mark und Untertanin des brandenburgischen Landesherrn wandte sie sich an die fürstlichen Räte in Kleve. Dort klagte sie, „wiewohl sie eine Tochter von Kemnade und darum an den Kemnadischen Gütern erbberechtigt sei, sie dennoch als eine hochbetrübte, mit den hinterlassenen Weselein und kleinen Kindern befangene Wittib von ihrem Bruder ganz verlassen und dergestalt verstoßen worden sei, daß sie zu ihres Leibes notdürftiger Unterhaltung ferner keine Mittel noch Rat wisse, zu geschweigen, daß sie ihre armen, elendigen und verlassenen Kinder mit Darreichung des Brotes speisen und laben könnte. Darum bitte sie die fürstlichen Räte, hierüber eine gebührliche Einsehung zu nehmen und die Versehung tun zu wollen, damit sie und ihre Kinder nicht lablos vergehen und vor Hunger umkommen möchten.“

 

Die klevische Regierung lieh den Klagen Ursula Nagels ein williges Ohr. Ihr kamen derartige Anlässe nicht unerwünscht, um politische Vorteile daraus zu ziehen und in die landesrechtliche Selbständigkeit des Gerichtsherrn von Stiepel eine Bresche zu schlagen. Sie überwies die Sache dem Bochumer Drosten Jost von Aschebroik, der seinen Sitz auf der Burg Strünkede hatte. Das Bochumer Gericht war ja die Berufungsinstanz für Stiepel, woselbst Wennemar zu Kemnade Gerichtsherrlichkeit besaß. In der Ueberweisung der Sache an das Bochumer Gericht lag indes bei der verwickelten Rechtsordnung im alten Reich der Keim zu schweren Kämpfen. Der Stiepeler Gerichtsherr unterstand eben nicht in eigenen Angelegenheiten der Drostgewalt in Bochum. Andererseits konnte Ursula Nagel ihre Klage auch nicht vor dem Stiepeler Gericht anbringen; den dann wäre der Angeklagte Richter in eigener Sache gewesen. So mußte der Vermögensstreit zwangsläufig zu einer Staatsaktion werden.

 

Jost von Aschebroik forderte, gemäß des klevischen Auftrages, die Nagelin auf Kosten ihres Bruders zu unterhalten, Wennemar von der Reck auf, für seine Schwester und deren Kinder die Alimente zu entrichten. Der Gerichtsherr zu Kemnade berief sich darauf, daß er der Gewalt der brandenbürgischen Regierung gar nicht unterstellt sei, und wies das Ansinnen der Bochumer Drosten zurück. Noch einigemal gingen Boten zwischen Strünkede und Kemnade hin und her, um Wennemar „auf der Schwester Suchen und Bitten zu hören“. „Er hat dennoch die Sache teils unbeantwortet gelassen, teils de foro exzipiert (die Zuständigkeit abgelehnt) und angegeben, daß die Schwester Ursula enterbt wäre, weil sie aus dem Kloster wider ihrer Eltern Willen ausgetreten und zur Heirat gegriffen.“ Darauf beschlagnahmte, es war im Herbst 1611, der Drost zwei Güter Wennemars, die am Bochumer Gerichtssprengel lagen, nämlich die Höfe Barenholt und Donhoff. Der Freiherr zu Kemnade erhielt von dem schweren Eingriff in seine Recht nicht einmal den ordnungsmäßigen Bescheid. Sein Vetter Heinrich von Elverfeld, der Grund- und Gerichtsherr zu Herbede, mußte ihn von dem Vorgehen Jost von Aschebroiks verständigen. Dann erst meldete am 8. November der Drost nach Kemnade, daß er auf Befehl der Regierungsräte in Kleve gehandelt habe, legte aber weder den Befehl, noch eine Abschrift bei. Nicht ohne Bedeutung war der Zeitpunkt der Meldung. Am 10. November, dem Martinstag, gingen nach altem deutschen Rechte die Pachten und Lieferungen an die Grundherren ein. Von dem Donhoff und Barenholt bleiben diesmal die Zehnten aus, mit denen der Kemnader gerechnet hatte. In andern Versäumnisfällen hätte der Stiepeler Gerichtsherr seinen Fronen ausgeschickt und die Jahresgefälle auf den Höfen gewaltsam beitreiben lassen. Hier stand er klugerweise davon ab, weil seine Boten sonst mit Sicherheit abgeschnappt und in das Bochumer Drostei-Gefängnis geführt worden wären.

 

Wennemar, der mit den Nachbardrosten, besonders mit Jost von Aschebroik schon manchen Rechtshandel erlebt hatte, fühlte sich durch die Zugriffe vom Herbst 1611 aufs bitterste verletzt. Seine Einkünfte hatte er dringend nötig, fehlten ihm doch sogar die Mittel, die väterliche Burg wieder aufzurichten. In dem Bochumer Drosten sah er seinen persönlichen Gegner, der ihn zu derselben Zeit auch in andern Sachen, z. B. in dem Patronatsrecht über die Kirche in Stiepel, zu schädigen suchte. Wie aber die neue brandenburgische Regierung in Kleve „die Herrlichkeit Stiepel, das subfeudum imperii, das alte lippische Lehen“ bei jedem nur denkbaren Anlaß zu entrechten trachtete und sich bei diesem Vorhaben der Drosten in Blankenstein, Wetter und Bochum bediente, war ihm nicht unbekannt. Es galt daher für Wennemar, zur Rettung seiner Regierungsgewalt und seiner Einkünfte die äußersten Schritte zu tun.

 

Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Goddert von der Reck beauftragte Wennemar den Prokurator beim Reichskammergericht Dr. Beatus Moses, der schon seit Jahren für die von der Recksche Familie tätig gewesen war, mit der Einreichung der Klage auf Freigabe der beschlagnahmten Höfe und Ersatz des bisher angerichteten Schadens, der auf 1000 Taler berechnet wurde. Um sicher zu gehen, zogen die Kemnader Herren noch den Advokaten Dr. Philippus Hirter hinzu. Die hochgelehrten und ehrenfesten Prokuratoren ließen in den nächsten beiden Jahren die Brüder von der Reck zunächst einmal gründlich zahlen, nämlich 2000 Reichstaler. Die Gegenseite machte es den Herren von der Recke eben nicht leicht; sie erhob immer neue Einwände und stellte in dem Kammergerichtsadvokaten Dr. Konradus Fabri, den der klevische Regierungspräsident und später brandenburgischen Staatskanzler Adam von Schwarzenberg mit der Wahrung der brandenburgisch-klevischen Rechte beauftragt hatte, einen zähen Gegner.

 

Nach zweijähriger Prozeßführung setzte die Stiepeler Partei durch, daß eine Kaiserliche Citation an die klevischen Räte und den Drosten von Bochum ausgestellt wurde. Der Kammergerichtsprotonotar Gammann faßte das weitschweifige Schriftstück in den Formeln des Kurialstils ab und übergab es dem Botenmeister Stepeler. Dieser beauftragte den reitenden Kammergerichtsboten Nilolaus Wunderlich, die Vorladung nach Bochum und Kleve zu bringen.

 

So erschien denn am Nachmittage des 10. Mai 1614 zwischen 3 und 4 Uhr ein Reiter vor der Außenpforte der Wasserburg Stünkede, schwang sich aus dem Sattel, ließ sich durch den Pförtner zu dem Burgherrn führen und stellte sich dem edlen Jost von Aschebroik als des Kammergerichts zu Speyer geschworener Bote vor. „Mit geziemendem Anstand, als einem aufrichtigen, wahrhaftigen, redlichen Gerichtsboten gebührte, bekannte er dem Junker vor der Innengräfte zwischen den beiden Toren, daß er eine kaiserliche Infinuation vorzubringen hätte.“ Aus einer ledernen Büchse holte er die mit dem Doppeladler bedruckte Urkunde und eine gleichlautende Abschrift hervor und nach der verordneten Weise, „wie und welcher Gestalt ein Bote die Prozesse auszutragen und derhalben Bericht tun soll“, hielt er dem Drosten mit der einen Hand die Urschrift unter die Augen, mit der anderen überreichte er die Abschrift und las den Text laut vor, durch den Jost von Aschebroik wegen Rechtsverletzung nach Speyer vorgeladen wurde. „Wir Matthias, von Gottes Gnaden erwählter Römischer Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches . . . entbieten den ehrsamen, gelehrten, Unsern und des Reichs Lieben und Getreuen, fürstlichen klevischen Räten, sodann Josten von Aschebroik, Drosten zu Bochum, Unsere Gnad und alles Guts. Ehrsame, Liebe, Getreue, Userm Kaiserlichen Kammergericht hat Unser und des Reichs Lieber, Getreuer Wennemar von der Reck zu Kemnade klagend an- und fürgebracht, . . . (es folgt die Darlegung des Sachverhalts, die Berechnung des Schadens durch die Beschlagnahme der Höfe, der Hinweis, daß Ursula Nagel diesen Schaden nicht ersetzen könne, daher der Drost und die Regierungsräte haftbar seien) . . . also haischen und laden Wir Euch von Römischer Kaiserlicher Macht, auch von Gerichtswegen hiermit auf den dreißigsten Tag des Monats Juni, . . . . selbst oder durch einen vollmächtigen Anwalt an Unserm Kaiserlichen Kammergericht zu erscheinen . . . „ Der Drost war nicht im geringsten wegen der Vorladung bestürzt. „Er nahm die Sitation mit alleruntertänigster Reverenz entgegen mit Vermeldung, dem allerdurchlauchtigsten, unüberwindlichsten Herrn Matthias Römischen Kaiser zu Ehren nehme er die Infinuation an, wolle auch alle gebührliche Notdruft in Termino darauf einbringen; denn er sei in diesen Dingen nicht mehr als ein Diener. Was er tue, geschehe auf Befehl seines Herrn, er werde dasselbe auch zu verantworten wissen.“

 

Der Bote Nikolaus Wunderlich ritt von Strünkede zur nächsten Herberge, schrieb dort den Bericht auf die Rückseite der Urschrift, trabte dann gemächlich nach Kleve und übergab unter den vorgeschriebenen Formen dem fürstlichen Kanzler die Vorladung. In dieser wurden sämtliche klevischen Räte, soweit sie in der Sache beteiligt waren, nach Speyer entboten. Der Kammergerichtsbote konnte nach erledigtem Auftrage nach Speyer zurückreiten und die Sitations-Urkunde samt Zustellungsberichten in die Hände des Botenmeisters zurückgeben.

 

Die angeklagten Räte und der Drost nahmen die Vorladung aber nicht ohne weiteres hin. Ihr Anwalt Dr. Fabri richtete eine „untertänige Anzeige“ an das Reichskammergericht. Weil er wenige rechtliche Gründe vorzubringen hatte, verlegte er sich darauf, die Notlage der Ursula Nagelin in grellen Farben auszumalen, um die Notwendigkeit des Einschreitens der klevischen Regierung darzutun. „Drost und klevische Räte haben von Amtswegen Wennemar von der Reck zu vielen Malen aufgegeben, seiner Schwester und ihren kleinen, verlassenen, vaterlosen Kindern jährlich eine Leistung zu tun, damit sie ihr Leben desto baß zu Ende bringen und die Kinder in Gottesfurcht und Ehrbarkeit erziehen könnte. Als aber der von der Reck sich gesperret, haben die Räte dem Drosten befohlen, daß der Drost Jost von Aschebroik die Einkünfte und Gefälle zweier Güter der Frau Ursula folgen lasse.“ Der Anwalt bat daher um Aufhebung der Klage, Zurückziehung der Vorladung und Zuweisung der Prozeßkosten an Wennemar von der Reck.

 

Die Anwälte der Kemnader Herren erwiderten darauf mit einem umfangreichen „Libell“. Sie faßten noch einmal alle Gründe für die Anklage zusammen, beriefen sich auf menschliches und göttliches auf deutsches und römisches Recht. Dutzende von Paragraphen, Dutzende von lateinischen und deutschen Rechtssprüchen führten sie an, um sowohl die Rechtmäßigkeit der Enterbung Ursulas, als auch die Rechtswidrigkeit der Eingriffe der Räte und des Drosten zu beweisen. Der rührseligen Schilderung der Notlage der Nagelin hielten sie entgegen, daß die Frau ja stark und gesund sei und wohl mit ihren Händen arbeiten könne, daß auch ihre Kinder Hand anlegen könnten. Den Ansprüchen „der geborenen Tochter von der Kemnade aus uralt adeligem Hause“ begegneten sie mit dem Hinweise, daß Ursula keine adeligen Rechte und Freiheiten mehr besitze, weil sie sich mit einer „unadeligen, gemeinen, schlechten Person verheiratet“ und selbst der untersten Volksklasse angehöre. Dem Herrn Wennemar von der Reck könne nicht zugemutet werden, die Unterhaltskosten für die aus der Familie und Freundschaft ausgeschiedene Schwester aufzubringen, umsoweniger als Ursula eine giftige Zunge führe und höchststräfliche Injurien und unleidliche Verleumdungen gegen den Bruder verbreite. Weil Wennemar angegeben, daß Ursula Nagelin in Unzucht und anders, als einer ehrbaren Frau zusteht, gelebt habe, so habe sie ihn aufs neue der Leichtfertigkeit und Verlogenheit bezichtigt und gesagt: „Der Dichter lügt dies in sein Herz und Nieren.“ Wenn bei der klaren Rechtslage Wennemar nicht zur Unterhaltung der enterbten Schwester gezwungen werden könne, so liege es auch menschlich außer aller Möglichkeit, daß der Herr zu Kemnade die ihn verleumdende Nagelin nur unterstütze.

 

Diese letzte Begründung konnte das Reichskammergericht nicht übersehen. Der Prozeß nahm seinen Fortgang. Die klevische Regierung und der Drost ersetzten den Schaden an Wennemar, hoben die Beschlagnahme der Güter auf und trugen die hohen Prozeßkosten.

 

Ursula Nagels Hoffnung auf bessere Tage war endgültig begraben, ihr Spiel ausgespielt. Das einst so übermütige Edelfräulein von Kemnade starb vergrämt, verbittert und verkommen im Elend. Wer weiß, wo? Die Schrecken des 30jährigen Krieges, die über das deutsche Land und auch über Ursulas unbekanntes Grab rasten, löschten bald die Kunde von der abenteuerlichen Frau aus, und mit dem schwergeprüften und zweifellos hartherzigen Wennemar sank auch das Geschlecht derer von der Reck zu Kemnade in die Gruft.  

 

Impressum

1930 Bochum Ein Heimatbuch

 

Herausgegeben im Auftrag der Vereinigung für Heimatkunde von B. Kleff

 

Verlag und Druck

Schürmann & Klagges

3. Band

 

Am 3. Bande dieses Heimatbuches arbeiteten mit:

 

Dipl.-Ingenieur Franz Eiermann, Bochum

Studienrat Dr. Joseph Esser, Bochum

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Günter Höfken, Essen

Rektor Bernhard Kleff, Leiter des Städt. Museums, Bochum

Konrektor Emil Tetzlaff, Bochum-Langendreer

Studienrat Erich Thieme, Hannover

Landwirtschaftsrat Dr. Friedrich Walter, Bochum

Direktor der Landwirtschaftlichen Schule

Schulrat August Weiß, Neuwied

Privatsekretärin Wilma Weierhorst, Bochum

 

Copyright by Schürmann & Klagges, Bochum

 

Buchschmuck: Druckereileiter Erich Brockmann, Bochum

 

(Zitierhinweis 2012)

Bernhard Kleff, Hg.: Bochum. Ein Heimatbuch. Bochum 1930. Bochumer Heimatbuch Bd. 3