Die Bevölkerungsentwicklung im westfälischen Industriegebiet in den Jahren 1880-1910

 

Dr. Friedr. Walter

 

Während wir von jeher gewohnt sind, alle Vorgänge und alle Forschungen im Auslande mit lebhaftem Interesse zu verfolgen, stehen wir im eigenen Lande oder gar in der Heimat den altgewohnten Tatsachen oft recht gleichgültig gegenüber. Die Schilderungen aus Amerika, wo „die Großstädte wie Pilze aus der Erde schießen“, werden gutgläubig und stets mit gebührendem Staunen hingenommen. Daß aber im eigenen Vaterlande unter unseren Augen sich andauernd Entwicklungen von nicht minder erstaunlichen Ausmaße vollziehen, daß wir alle durch diese Wandlungen mehr oder weniger miterfaßt werden, kommt uns recht häufig nicht genügend zum Bewußtsein.

 

Gewiß wird hin und wieder darauf hingewiesen, daß einige der heutigen großen Industrieorte des Ruhrgebietes noch vor etwa 100 Jahren kleine Ackerstädtchen waren, wie etwa Bochum, das 1817 ganze 2102 Einwohner zählte. Ab und zu wird auch geschildert, daß an der Stelle, wo heute große Zechenanlagen oder riesige Industriewerke sich erstrecken, wo Häusergruppen sich an Häusergruppen reihen, noch vor wenigen Menschenaltern kleine Bauerndörfer lagen, deren Strohdächer sich bescheiden hinter hohen Eichbäumen verbargen. Es ist aber durchaus nicht allgemein bekannt, daß der gewaltige Aufschwung des Gebietes und seine riesenhafte Bevölkerungszunahme erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit erfolgte. Es lohnt daher, die Bevölkerungsentwicklung des Industriegebietes einmal etwas eingehender zu verfolgen.

 

Als Unterlagen für die Untersuchungen wurden die amtlichen Ergebnisse der Volkszählungen benutzt. Leider sind die Ergebnisse der Zählung von 1875 nicht nach Gemeinden veröffentlicht worden. Es konnte daher hier nur die Entwicklung seit 1880 dargestellt werden, da Wert darauf gelegt wurde, die Entwicklung innerhalb möglichst kurzer Zeiträume zu verfolgen. Es wurde die Zunahme bzw. der Rückgang der Bevölkerung in den einzelnen Gemeinden des Gebietes für die sechs Jahrfünfte von 1880 bis 1910 berechnet. Die Zahlen wurden dann in Karten 1:100 000 mit Gemeindegrenzen eingetragen und durch „Dichtepunkte“ dargestellt. Für je 100 Personen Zunahme oder Rückgang wurde dabei ein Punkt gesetzt. Durch die Dichte der Punkte ergibt sich dann ein anschauliches Bild. Der Wert 100 mußte gewählt werden, um die Entwicklung in den ländlichen Orten und in den Industriezonen zugleich darstellen zu können. In zwei Fällen reichte die Gebietsfläche nicht aus, um den starken Zuwachs durch die volle Punktzahl ausdrücken zu können, bei Bochum für 1895/1900 und bei Dortmund für 1905/1910. In diesen beiden Fällen hätte also eine noch größere Punktzahl eingetragen werden müssen, um die tatsächliche Zunahme entsprechend wiederzugeben. Sonst ist die Punktdichte stets eine genaues Bild der örtlichen Bevölkerungsanhäufung.

 

Bei der Verteilung der Punkte innerhalb der einzelnen Gemeinden mußte vielfach etwas schematisch verfahren werden, da die veröffentlichten Zahlen keinen Anhalt dafür geben, in welchem O r t s t e i l der einzelnen Gemeinde eine größere oder eine geringere Zunahme erfolgte. Für die Uebersicht, die hier geboten wird, müssen solche Feinheiten der Darstellung von vornherein ausscheiden, da ihre sorgfältigere Bearbeitung für ein größeres Gebiet die Kraft eines einzelnen bei weitem übersteigt.

 

Da schon vor Jahrzehnten im Industriegebiet da und dort Umgemeindungen stattgefunden haben, ergaben sich zunächst einige technische Schwierigkeiten bei der Bearbeitung. Es mußten zuweilen erst mühsame Nachprüfungen vorgenommen werden, um die Gebietsveränderungen berücksichtigen zu können, weil die amtlichen statistischen Veröffentlichungen leider keine Hinweise auf die seit der letzten Zählung stattgefundenen Umgemeindungen bringen.

 

Gegenüber den überwiegend vorhandenen Gebieten mit mehr oder minder starker B e v ö l k e r u n g s z u - n a h m e treten in jedem Jahrfünft eine kleinere Zahl von Gemeinden auf, in denen keine Zunahme, sondern ein absoluter R ü c k g a n g der Bewohnerzahl erfolgt ist. Diese Gebiete mit Bevölkerungsrückgang sind durch feine wagerechte Schraffur herausgehoben.

 

Die erste einheitliche Volkszählung des Gebietes erfolgte im Jahre 1816. Veröffentlichte Ergebnisse liegen aber nur von der Zählung vom Jahre 1817 vor. Die Karte zeigt den Bevölkerungsstand er damaligen Städte und von einigen Landgemeinden, die die Siedlungskerne heutiger großer Industrieorte bilden. Aus den Zählungser-gebnissen geht hervor, daß die Kreise Hagen und Iserlohn dicht besiedelt waren. Die damals blühende Eisenindustrie des märkischen Landes vermochte eine zahlreiche Bevölkerung zu ernähren. Die Stadt Iserlohn (4807Einwohner) war 1817 z. B. größer als Dortmund, das seinerzeit nur 4259 Einwohner zählte. Hagen (2551 Einw.), Schwelm (2907 Einw.) und Altena (3361 Einw.) waren sehr ansehnliche Orte. Aber auch die Landgemeinden des Kreises Hagen waren meist recht volkreich. Das Gebiet des Hellwegs und des anschließenden Münsterlandes dagegen beherbergte in den Landgemeinden eine weniger zahlreiche Bevölkerung, die damals vorwiegend landwirtschaftlichen Beruf ausübte. Der Bergbau auf Steinkohle war zwar bereits im Gange, beschränkte sich aber in der Hauptsache auf das Gelände südlich der Ruhr, wo eine Anzahl kleinerer Zechen im Betrieb waren. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kam dann der Bergbau immer stärker in Aufnahme, und damit setzte von außen her ein Bevölkerungszustrom ein, der besonders nach 1870 mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des neuen Reiches ein immer stärkeres Ausmaß erlangte und die Bevölkerungsverhältnisse des Ruhrgebietes grundlegend umgestaltete.

 

Für das Stadtgebiet Bochum geben die Zahlen der Tabellen auf S. 67 und 76 und die graphischen Darstellungen (Abb. 1-3 auf S. 68, 69 und 76) einen guten Aufschluß. Die Angaben für 1816 bis 1864 wurden mitgeteilt vom Preußischen Statistischen Landesamt, ab 1867 wurden sie den einzelnen amtlichen Veröffentlichungen entnommen. Die Einwohnerzahlen des alten Stadtgebietes wurden für 1905 und 19010 vom Statistischen Amt der Stadt Bochum mitgeteilt. Die gleichen Zahlen für 1919 und 1925 sind nicht festgestellt.

 

Eingemeindungen nach Bochum fanden statt

am 1.4. 1904 Grumme, Hamme, Hofstede und Wiemelhausen.

am 1.4. 1926 Altenbochum, Hordel, Riemke, Weitmar und Teile von Laer, Eppendorf, Höntrop, Westenfeld und Eickel

am 1.8. 1929 Gerthe, Harpen, Laer, Querenburg, Langendreer, Werne, Stiepel, Baak, Linden u. Dahlhausen.

 

Die folgenden Kärtchen (2-7) geben dann im einzelnen den Verlauf der Bevölkerungsentwicklung des Gebietes wieder. Den Darstellungen liegen die Ergebnisse der Volkszählungen für die einzelnen Gemeinden zugrunde.

 

Entwicklung 1880 – 85

 

Der Kern des heutigen Industriegebietes beginnt sich bereits herauszuschälen. Besonders starke Bevölkerungs-zunahme zeige allerdings nur Dortmund, Bochum und Gelsenkirchen. Immerhin heben sich auch einige andere Orte wie Wattenscheid, Witten und Hörde, etwas geringer Herne, Langendreer, Lütgendortmund, Castrop und das Gebiet zwischen Gelsenkirchen und Herne durch einen mehr als durchschnittlichen Bevölkerungszuwachs heraus.

 

Auch nördlich der Emscher ist eine gewisse Zuwanderung vorhanden, doch ist diese ziemlich schwach.

 

Im alten Industriegebiet an der Ennepestraße findet nur in Hagen ein stärkerer Zustrom statt. Iserlohn und die Orte an der Lenne treten weniger hervor.

 

In schroffem Gegensatz zu dieser Zunahme im Kern des Industriegebietes steht ein mehr oder minder starker Bevölkerungsrückgang in einer Randzone, die sich um diesen Kern herumlegt und die von den Höhen von Sprockhövel in fast geschlossenem Zuge sich nach Osten zu über das Ruhrtal hin, nach dem östlichen Teile des Kreises Hamm und von dort längs der Lippe nach Westen zieht.

 

 

Entwicklung 1885 – 90

 

In Dortmund und Bochum setzt sich der Aufschwung lebhaft fort. Besonders starken Zuwachs erlebt jedoch Gelsenkirchen. Auch dessen Nachbarorte nehmen an der Zunahme einigen Anteil. In Herne, Langendreer, Lütgendortmund, Castrop und Witten behält die Zunahme etwa das gleiche Maß wie bisher, stärker wird sie in Unna und Kamen. Hamm nimmt weiter in gleicher mäßiger Weise zu wie im letzten Zeitabschnitt.

 

Nördlich der Emscher ist die Zuwanderung etwas stärker, besonders ist das in Recklinghausen der Fall.

 

An der Ennepestraße erlangt Hagen eine steigende Bedeutung. Im übrigen Bergland zeigt Iserlohn eine weitere frische Entwicklung. Auch Altena besitzt diesmal eine stärkere Zunahme. Im Ruhrtal beginnt Schwerte, das ehemals als Hansastadt an der alten Handelsstraße eine gewisse Bedeutung besaß, sich neu zu beleben.

 

Die bisherigen Stillstands- und Rückgangsgebiete sind im wesentlichen die gleichen geblieben. Ihr Bevölkerungsüberschuß wird weiter vom Industriegebiet aufgesogen.

 

 

Entwicklung 1890 – 95

 

Gegenüber dem letztem Jahrfünft erlebt Dortmund einen wesentlich stärkeren Zuwachs. Bochum setzt seine Entwicklung in gleichem Ausmaß fort, ebenso Gelsenkirchen. Stärkeren Zustrom erlebt dagegen Herne, und in Wanne (bisher Bickern genannt) bildet sich ein neuer Wachstumskern heraus. Die Landgemeinden im Raume Gelsenkirchen-Bochum-Herne erlangen eine größere Bedeutung als bisher. Bei Witten behält die Zunahme etwa den gleichen Umfang.

 

Nördlich der Emscher hält die langsame Steigerung des Zustroms, besonders in Recklinghausen, weiter an.

 

An der Ennepestraße bleibt Hagen weiterhin ein starkes Zunahmegebiet. In Iserlohn ist die Zunahme unverändert, in Altena wird sie dagegen geringer. Dafür beginnt Hohenlimburg sich kräftiger zu entwickeln als bisher.

 

Die Stillstands- und Rückgangsgebiete im Berglande und im Kreise Hamm bleiben nahezu unverändert. Dagegen tritt nördlich der Lippe in bisherigen Rückgangsgebieten vielfach eine, wenn auch geringe, Zunahme ein.

 

 

Entwicklung 1895 – 1900

 

Der Aufschwung ist allerorts noch kräftiger als bisher. Wieder erhalten Gelsenkirchen, Dortmund, Bochum von der allgemeinen Zuwanderung den Hauptanteil. Bei Bochum ist der Zuwachs sogar so stark, daß er in der Karte nicht i vollem Maße darstellbar ist. Auch die Nachbarorte von Gelsenkirchen (Ueckendorf, Bulmke, Hüllen), ebenso Wattenscheid und Wanne, erleben eine ungewöhnlich starke Zuwanderung. Herne nimmt gleichfalls einen noch kräftigeren Aufschwung als bisher. Auch in den Nachbargemeinden von Bochum tritt eine erhebliche Bevölkerungszunahme ein, besonders in Hamme, dann aber auch in Weitmar und in Linden und Dahlhausen. Langendreer-Werne, Lütgendortmund und nunmehr auch Marten nehmen nicht unerheblich zu. Im Norden von Dortmund beginnt Eving eine Kräftigen Aufschwung. Das gleiche gilt von Lünen. Auch östlich von Dortmund setzt eine stärkere Zunahme ein.

 

Dagegen bleibt die Zunahme bei Witten und bei Hamm fast unverändert.

 

Nördlich der Lippe tritt eine starke Steigerung der Zuwanderung ein. Recklinghausen erfährt eine kräftige Zunahme, noch mehr die Gemeinde Horst an der Emscher.

 

An der Ennepestraße hält in Hagen die Zunahme an. Weiter beginnt aber auch in Haspe, Gevelsberg, Schwelm und Langerfeld die Bevölkerung stärker zu steigen. Die Zunahme von Iserlohn hält in bisheriger Weise an. Diesmal setzt aber auch östlich davon, in Hemer, eine Zuwanderung ein. Ebenso beginnt Menden sich stärker zu entfalten. Bei Schwerte ist die Zunahme stärker als bisher, bei Altena dagegen geringer.

 

In den Stillstands- und Rückgangsgebieten bleiben die Verhältnisse fast die gleichen wie bisher.

 

 

Entwicklung 1900 – 05

 

Im Gegensatz zum vorhergehenden Jahrfünft läßt in vielen Teilen des Gesamtgebietes die Zuwanderung deutlich nach. Nur Dortmund befindet sich auch weiterhin in kräftigem Aufschwung. Besonders auffällig ist das Nachlasse bei Gelsenkirchen. Wanne dagegen behält das bisherige Entwicklungsmaß bei. In Bochum und Herne ist ein geringer Rückschlag eingetreten; dasselbe ist bei den Gemeinden zwischen Bochum und Dortmund der Fall. Noch stärker ist die Abnahme der Zuwanderung bei Witten. Dagegen beginnt Hamm, sich entschiedener zu entfalten.

 

Nördlich der Emscher hält im allgemeinen die Zunahmesteigerung an. Besonders Gladbeck und Osterfeld zeigen stärkeren Zustrom. Dagegen ist bei Recklinghausen und Horst ein wesentliches Nachlassen bemerkbar.

 

Ebenso wie im Norden ist auch südlich der Ruhr allgemein ein Abflauen in der Kraft des Zustroms feststellbar. Das trifft für Hagen ebenso zu wie für Iserlohn und noch mehr für Schwerte.

 

Die Lage der Rückgangsgebiete im Süden und Osten bleibt die gleiche wie bisher. Im Norden der Lippe ist aber anscheinend der tiefste Stand endgültig überwunden.

 

 

Entwicklung 1905 – 10

 

Gegenüber dem Nachlassen in dem letzten Zeitabschnitt tritt eine merkliche Erholung ein. Die Zunahme bei Dortmund ist so stark, daß sie auf der Karte nur zu etwa 80 v. H. darstellbar war. Bochum weist wieder stärkere Zunahme auf, noch stärker Eickel und seine Nachbargemeinden Holsterhausen. Gelsenkirchen bleibt dagegen im Vergleich zu früher erheblich zurück. Mehr oder weniger nachgelassen hat der Zuwachs in Herne, in Witten und in der weiteren Umgebung von Dortmund. Dagegen zeigt Hamm und seine Umgebung einen größeren Aufschwung.

 

Nördlich der Emscher setzt eine noch kräftigere Zunahme ein als vorher, besonders in Horst und Gladbeck. Recklinghausen tritt etwas zurück.

 

An der Ennepestraße nimmt Hagen wieder stärker zu, ebenso Haspe und Gevelsberg.

 

Die Gebiete des Rückgangs sind im Süden etwas kleiner geworden, im Osten (im Kreise Hamm) stark verringert und nördlich der Lippe so gut wie ganz verschwunden. Dort ist stellenweise (in den nördlichen Nachbargemeinden von Hamm, in Werne und Selm) sogar eine nicht unbeträchtliche Zunahme eingetreten.

 

 

Während noch um 1880 hauptsächlich die H e l l w e g l i n i e (Dortmund – Bochum) das Hauptgebiet der Zuwanderung kennzeichnet, hat sich allmählich das Schwergewicht im westlichen Teile des westfälischen Industriegebietes immer mehr nach Norden verlagert, so daß um 1910 das Kerngebiet etwa von der E m - s c h e r l i n i e durchschnitten wird. Bochum ist der Südostpfeiler des Hauptgebietes geworden, das sich in dem Raume Herne-Wanne-Gelsenkirchen-Wattenscheid-Bochum gebildet hat. Oestlich davon ist in Dortmund ein besonderer Kern entstanden, der das entschiedene Uebergewicht über seine nächste Umgebung behauptet. Noch weiter im Osten schient sich schließlich in Hamm ein neuer stärkerer Zuwachskern herauszubilden. Im Süden beherrscht Hagen die Entwicklung des Industriegebietes an der E n n e p e s t r a ß e als Ostpfeiler des Raumes, der in Barmen-Elberfeld seine westliche Fortsetzung findet.

 

Die in den Kärtchen angewandte Darstellungsweise gestattet, die Entwicklungsvorgänge sowohl nach ihrem Ausmaß wie auch in ihrer Richtung klar und eindeutig zu erkennen. Je kleiner dabei die Gebietseinheiten sind, für die Zahlenunterlagen vorliegen, desto einwandfreier sind die Bearbeitungsergebnisse. Es ist deshalb zu bedauern, daß infolge der Eingemeindung, bei denen die kleinen Gemeinden mehr und mehr verschwinden und durch die dafür die Industriegroßstädte einen immer größeren Gebietsumfang erhalten, die veröffentlichen statistischen Zahlen nicht mehr in gleicher Weise wie bisher die einzelnen Tatsachen örtlich scharf genug erkennen lassen. Es wäre dringend zu wünschen, daß in Zukunft alle statistischen Angaben nach einzelnen Stadtteilen – die nach Möglichkeit die gleiche Abgrenzung behalten wie die früheren Landgemeinden, aus denen sie hervorgegangen sind – veröffentlicht werden. Nur dann ist die Gewähr dafür gegeben, daß auch künftig die allgemeinen Erkenntnisse gewonnen werden können, die für das Verständnis des wirtschaftlichen Aufbaus und der vielgestaltigen Wandlungen innerhalb des Industriegebietes von unbedingter Notwendigkeit sind.

 

Das Verfolgen der dauernden, tiefgreifenden Umgestaltungen der Bevölkerungsverhältnisse bietet nicht etwa lediglich ein heimatkundliches und wissenschaftliches Interesse. Die Betrachtungen erlangen nach den verschiedensten Richtungen hin eine praktische Bedeutung. Das Zusammenballen der großen Menschenmassen auf engem Raume und das Schwanken in der Stärke der örtlichen Zunahme bietet eine Fülle neuer, oft unerwarteter Aufgaben für den Städtebauer wie für den Verwaltungsfachmann, für die Verkehrsregelung wie für die Siedlungsplanung. Die geographisch-vergleichende Darstellung läßt auch für diese Zwecke einen raschen und eindeutigen Ueberblick über die verschiedenartigen Entwicklungsvorgänge der Besiedlungsverhältnisse gewinnen.

 

Im wesentlichen hat die Ausgestaltung des Bergbaus im Ruhrgebiet die Richtung der Bevölkerungsentwicklung beeinflußt. Die Inbetriebnahme neuer Arbeiterkolonien in der Nähe der neuen Schächte und den Ausbau der benachbarten alten Siedlungskerne. Kokereien und chemische Werke folgten dem Bergbau. In der Nähe der Kohlengewinnung sind schon frühzeitig Hochöfen, dann Stahlwerke, Eisengießereien, Walzwerke und Maschinenfabriken und in ihrem Gefolge wieder eine Fülle von Begleitindustrien und von anderen Erwerbsarten entstanden.

 

Mit dem allmählichen Vorrücken der Kohlenzechen nach Norden über die Emscher und später über die Lippe hinaus mußte daher auch das Gebiet der stärkeren Bevölkerungszunahme sich nach Norden verschieben. Das Stillegen der südlichen Randzechen hat neuerdings eine völlige Umgestaltung der Verhältnisse im südlichen Randgebiet verursacht. Teilweise sind neue Gewerbszweige an die Stelle der bisherigen getreten, teilweise hat aber auch bereits eine Abwanderung nach den Orten mit stärker aufstrebender Industrie eingesetzt.

 

Im allgemeinen hat die Besiedlung im Industriegebiet einen immer größeren Flächenraum eingenommen. Nur kleine Teile des Gesamtgebietes sind von der Bevölkerungszunahme in geringerem Maße miterfaßt worden. Das Eigenartige in der ganzen Entwicklung ist jedoch, daß auch heute noch neben qualmenden Schloten und dröhnenden Industrieanlagen friedlich da und dort Bauernhöfe liegen, die den Namen ihres Besitzers seit Jahrhunderten, teilweise seit mehr als einem Jahrtausend, von Geschlecht zu Geschlecht vererbt haben. Die Landwirtschaft im Industriegebiet ist durch die dichter werdende Besiedlung zwar erheblich zurückgedrängt. Zahlreich Höfe sind in den letzten Jahrzehnten völlig verschwunden. Andere haben durch Landabgabe an Siedlungen, Industrie, für Straßenbauten u. a. mehr oder minder an Flächenumfang verloren. Aber noch immer besitzt die Landwirtschaft auch im Industriegebiet eine durchaus beachtliche wirtschaftliche Bedeutung.

 

Eine ganz andersartige Entwicklung ist in den Randgebieten eingetreten, in denen lange Jahre hindurch eine starke Abwanderung erfolgte, wo die landwirtschaftlichen Betriebe in ihrem alten Umfange fast durchweg erhalten bleiben konnten, wo allerdings infolge des Bevölkerungsrückganges ein fühlbarer Leutemangel die Wirtschaftsweise der Betriebe grundlegend umgestaltete. Die Rückgangsgebiete weisen auch heute noch ein vorwiegend ländliches Gepräge auf. Sie bilden wichtige Nahversorgungsgebiete für die Menschen, die ihr Beruf in das riesige Häusermeer der Industriegroßstädte führte.

  

Impressum

1930 Bochum Ein Heimatbuch

 

Herausgegeben im Auftrag der Vereinigung für Heimatkunde von B. Kleff

 

Verlag und Druck

Schürmann & Klagges

3. Band

 

Am 3. Bande dieses Heimatbuches arbeiteten mit:

 

Dipl.-Ingenieur Franz Eiermann, Bochum

Studienrat Dr. Joseph Esser, Bochum

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Günter Höfken, Essen

Rektor Bernhard Kleff, Leiter des Städt. Museums, Bochum

Konrektor Emil Tetzlaff, Bochum-Langendreer

Studienrat Erich Thieme, Hannover

Landwirtschaftsrat Dr. Friedrich Walter, Bochum

Direktor der Landwirtschaftlichen Schule

Schulrat August Weiß, Neuwied

Privatsekretärin Wilma Weierhorst, Bochum

 

Copyright by Schürmann & Klagges, Bochum

 

Buchschmuck: Druckereileiter Erich Brockmann, Bochum

 

(Zitierhinweis 2012)

Bernhard Kleff, Hg.: Bochum. Ein Heimatbuch. Bochum 1930. Bochumer Heimatbuch Bd. 3