Werwolfsagen aus Harpen.

 

K. Leich.

 

Bi us in dä Rooberschop was so´n ollen Mann, dä wuß viell Spöikgeschichen. Fröiher was Hapren vull van Spöickerigge. At häxen un spöiken an alle Ennen. Wi Deens – ek was so´n Johr ow 16 – gongen fake oobens dohen un leiten us wat vertelln. Wänn hä so rächt tegange was, dann sag hä op äimol: „Süh, dä Klüngelpelz (Werwolf) kikt buten düör dä Ruten.“ Dann fonk ät us an te Schuoddern. Wi moken, dat wi gau no Hus kamen.“

 

So erzählte mir eine 92jährige, kürzlich verstorbene Großmutter, die mit ihren Gedanken noch viel in der Ver-gangenheit ihrer Heimatgemeinde lebte, und fügte hinzu: „Wänn wi dann no Hus gongen, dann han wi dä F . . . vull Angst un liepen, dat us dä Klüngelpelz nich kräig.“

 

Diese Furcht vor dem Werwolf war weit verbreitet und sowohl bei der Jugend, als auch bei vielen Erwachsenen zu finden. Es handelt sich dabei um einen uralten, bei fast allen germanischen, slavischen und romanischen Völkern bestehenden Aberglauben, der tief in der Volksseele wurzelte. Und es mag heutzutage noch in stillen Gegenden genug Leute geben, in denen der Glaube an den Werwolf und die Furcht vor ihm noch lebendig ist.

 

Das Wort Werwolf ist zusammengesetzt aus Wolf und dem veralteten „Wer“ = Mann. Ein Werwolf ist also ein Mensch, der Wolfsgestalt und Wolfsnatur annehmen kann. Also ein zauberhafter, unheimlicher Geselle. Der Wolf war früher in Deutschland häufig und als gefräßiges Raubtier gefürchtet; im Jahre 1835 wurde der letzte Wolf auf westfälischer Erde bei Arnsberg erlegt. Wegen seiner Wildheit, Verschlagenheit und Blutgier spielte der Wolf in der Volksphantasie eine große Rolle. Man denke an die Wölfe Wodans, den Weltenwolf, das Rotkäppchenmärchen und an den Kindervers „11-12, da kommen die Wölf“. Jedenfalls mußte ein Werwolf, also ein Wesen, das menschliche und wölfische Eigenschaften in sich vereinigte, den Leuten etwas ungeheuer Unheimliches sein; und das um so mehr, als er die Gewohnheit hatte, abends heimlich und unverhofft den Menschen auf den Rücken zu springen und sie zu quälen.

 

Die Vorstellung von der Werwolfgestalt ist in den verschiedenen Sagen nicht einheitlich. Es scheinen zwei Auffassungen vorzuliegen, die allerdings oft in einander übergehen.

 

Nach der einen Auffassung ist der Werwolf ein schwarzes, wolfartiges, zottiges Untier. Wegen seines strubbeligen Aussehens nannte man es in Harpen meist „Klüngelpelz“. Es trieb an bestimmten Stellen sein Unwesen. Kam der einsame Wanderer daher, dann hockte es ihm auf und ließ sich von ihm schleppen. Der Ueberfallene konnte sich selbst des Untiers nicht entledigen. Er mußte es vielmehr tragen, bis daß es absprang. Vor Angst und Anstrengung keuchte er dahin, über und über schweißbedeckt.

 

In der Gemeinde Harpen wurden mehrere Oertlichkeiten genannt, wo der Werwolf umging. Ueber den Bach in der Nähe der Kirche führte ein Schemm (Steg); der alte B., der dort wohnte, mied abends die Stelle: „Do go ek nich hiär, do fitt dä Wiärwulf.“ Am Hexenplätzchen auf der Wiescherstraße sprang um 1850 der Werwolf jemand glatt auf den Nacken und ließ sich tragen, bis das Opfer schwitzte. Dasselbe ist dem alten Bl. in der Grume passiert. In den „Päschen“, einem sumpfigen Gehölz in Gerthe, trieb sich nachts 11-12 Uhr der sogenannte „Häikäl“ herum und überfiel nach Werwolfsart die Leute. Man will den Werwolf in Harpen auch am alten Kirchhof und in der Ecksee gesehen haben, und in Gerthe bei Schuth, sowie auf dem Wege von Schulte-Mausbeck nach Wilhelms. In Hiltrop war vor Jahren auf einem Hofe nervenkranker Mann, der nachts oft unter dem Werwolf litt; damit ihn der Werwolf nicht fände und quälte, legte er sich jede Nacht in einer anderen Stube des Hauses oder Stelle der Scheune schlafen. – Ein alter Berginwalide B., den ich noch gut gekannt habe, machte eines Abends mit dem alten Dirkhinnert Sch. die Runde, um Felddiebstähle zu verhindern. Als sie durch das Harpener Bockholt kamen, sprang der Werwolf von einem Baum den B. auf den Nacken und drückte ihm den Hals zu. B. schrie: „Dirkhinnerk, hau, hau!“ Er tat es, traf aber nicht, obgleich er fest zuschlug. Auf einmal war der Werwolf verschwunden, und man sah nichts von ihm. – Aehnlich ging es damals auch dem alten B., der in Werne an der Grenze von Harpen wohnte. Er war in Lütgendortmund gewesen und auf dem Heimwege bis an die Stelle des Werner Hellwegs gekommen, die „auf`m Gericht“ heißt (wo eine schwere Eiche stand). Plötzlich hatte er das Untier auf dem Rücken. Es ließ nicht ab von ihm, so viel er auch durch Schubbeln sich abmühte, es los zu werden. Er mußte es tragen bis dorthin, wo jetzt Zeche Heinrich Gustav liegt. Da war er „durch und durch geschwitzt.“ Später wurde ihm von einem, der es wissen wollte, der Rat gegeben: „Passiert dir das noch einmal, dann nimm dein Messer und stech den Werwolf, daß er blutet; wenn man ihm das „Blut löst“, wird man ihn los.“ –

 

Eine zweite Auffassung versteht unter dem Werwolf nicht ein Ungeheuer, das dauernd in wolfähnlicher Gestalt sein Unwesen treibt, sondern einen Menschen, der nur gelegentlich in einen Wolf sich verwandelt und nachher wieder Menschengestalt annimmt. Entsprechend der germanischen Vorstellung, wonach der Körper das Kleid der Seele ist, glaubte die Volksphantasie, daß es Leute gebe, die ihren Körper wie ein Gewand wechseln, „sich umwechseln“ und als Tier auftreten könnten. Die Harpener Sagen sprechen von Menschen, die sich in Wolf, Hase und auch Hund verwandelt haben. Auch in Werne lebte früher ein „Zigarrenwilm“, dem man die Fähigkeit, in Tiergestalt zu erscheinen, nachsagte. Die Verwandlung in einen Werwolf geschah dadurch, daß der Betreffende sich einen ledernen Wolfsgürtel umschnallte; legte er den Gürtel ab, oder wurde er ihm zerschlagen, so nahm der Werwolf sofort wieder seine Menschengestalt an. Diese Werwolfsnatur kann dem Menschen angeboren sein. Mit Anlegung des Gürtels erhielt die betreffende Person Fell mit Ohren, Stimme und Wildheit des Wolfs; auch von Hörnern ist wohl die Rede. Selbstverständlich galt ein solcher Mensch als Zauberer, der mit dem Bösen im Bunde stand; und es war für einen Mann eine höchst gefährliche Sache, im Verdacht des Werwolfs zu stehn. Nach dem alten Bochumer Bürgerbuch hatte ein Diedrich Dreckmann von Kornharpen „Johan Kleifman darselbst binnen der Stadt Bouchum in Diedrichen Stratmans Behausung einen Zauberer und Werwulf geschulden, der der Bauren Vieh beruffet“; und es gab darüber eine gerichtliche Auseinandersetzung. Sicherlich hat bei den Hexenprozessen des Mittelalters der Werwolfswahn oft eine Rolle gespielt. In Ahlen wurde 1615 ein Zauberer zu Asche verbrannt, der bekannt hatte, daß er gemeinsam mit seinen Gehülfen als Werwolf Tiere gebissen habe. –

 

Vor etwa 60-70 Jahren, so wurde mir erzählt, war ein Schneider K. im Hause eines Leinwebers in Bergen zum Nähen. Gegen Abend kam der Knecht von Schulte-Bergen und brachte dem Leinweber Garn, das er weben sollte. Als der Knecht nach Hause wollte, machte der Schneider Feierabend und sagte: hä soll mä wachen, hä gönk met. „Nä“, erwiderte der Knecht, „ek hä käin Tid, ek maut no Hus un de Piärre soon“; und ging. Kaum war er fort, da kam der Schneider hinter ihm her und sprang ihm als Werwolf mit Haaren und Klauen auf den Rücken. Der Knecht mußte ihn tragen bis an des Schneiders Tür. Dort sprang der Werwolf herunter, verwandelte sich wieder in den Schneider und meinte: „Sou, nu sin`k hier; worüm häs du mi nich gewacht!“ – Der Knecht war übrigens dem Werwolf gegenüber völlig machtlos gewesen. Es hätte auch nichts genützt, nach ihm zu schlagen, denn „den Werwolf kann man nicht treffen, wenn man nach ihm schlägt.“

 

Einen schlimmen Ausgang nahm eine andere Werwolfgeschichte. Sie widerfuhr einem Harpener Bergmann Diedrich B. um 1850; er hat seiner Zeit dies Erlebnis einem noch heute lebenden betagten Harpener Bürger mehrfach selbst erzählt. Besagter Bergmann B. ging nach Beendigung der Schicht von Zeche Präsident heimwärts nach Harpen. Als er in der Ladbecke war, begegnete ihm der Werwolf in Wolfshundgestalt und machte Anstalt, ihm auf den Rücken zu springen. B. stutzte. Sogleich kam ihm der Gedanke, daß hinter dem Tier ein Mann namens Hanhinnerk steckte, der im Verdacht stand, ein Werwolf zu sein. Aus Leibeskräften rief er darum: „Janhinnerk, Janhinnerk, bliw mi van de Hut!“ Der Werwolf sprang aber trotzdem auf ihn los. B. nahm den Krückstock und hieb auf den Angreifer ein und schlug den Stock auf ihm entzwei. Umsonst. Da, in höchster Not, schwang B. seine Bergmannslampe, schlug zu und traf den ledernen Gürtel, den der Werwolf um den Leib trug. In demselben Augenblick, als der Gürtel zersprang, war der Werwolfspuk vorbei. Und wer stand vor dem erstaunten B.? Besagter Janhinnerk, der in Wolfsgestalt gekommen und nun entlarvt war. B. hatte ihn aber so schwer getroffen, daß er eine Zeitlang im Krankenhaus liegen mußte und später zu Hause infolge der Verwundung gestorben ist. – So hat der Werwolf früher in Harpen sein Unwesen getrieben. Nicht nur hier, sondern überall. Aber in einer stillen abgeschiedenen Landgemeinde, wie sie Harpen bis in die neuere Zeit war, ist die Erinnerung daran länger lebendig geblieben, als in den Stadt- und Industriegebieten unserer Gegend.

 

Worin mag die Werwolfssage ihren Ursprung haben? Es mögen altheidnische Vorstellungen zugrunde liegen. Auch schwere Träume, Albdrücken (Nachtmate) spielen mit, desgleichen Furchtgefühle, die den Wanderer abends in einsamen Wald und Feld beschleichen, wenn seine aufgeregte Phantasie allerlei Gestalten sieht und Geräusche hört. Auch Tiere können zu dem Aberglauben Anlaß gegeben haben. So stürzte sich einmal ein riesiger Uhu auf meinen Vater, als er spät abends mit einer Laterne durch den Wald ging, und hat ihm einen großen Schrecken eingejagt. Vor Jahren war in Kornharpen abends manchmal etwas Verdächtiges auf einem bestimmten Pfade; es stellte sich aber heraus, daß es kein Werwolf, sondern ein Kettenhund war, der sich des öfter losriß und mit dem Stück der Kette dann immer denselben Weg lief. Und natürlich haben auch oft „undüchtiger“ Burschen den Werwolf „markiert“, indem sie sich ein Fell umhängten und auf einsamen Wegen ängstliche Gemüter erschreckten; dadurch wurde der Glaube an den Werwolf immer weiter genährt.

 

Es war eine ganz andere Zeit, als man noch an Hexen und Spuke glaubte. Wir können uns heute kaum noch hineinversetzen. Es gab allerdings sicher auch damals genug verständige Leute, die gegen Aberglaube gefeit waren. Wie der Verwandte jener 92jährigen Großmutter, der damals erklärte: „Büör Häxen un Spöike brukt mä nich bange te sin, ower wuoll vüör slechte Lü un böise Rüens.“

 

Impressum

(ohne Jahr, ca. 1928) Bochum Heimatbuch

 

Herausgegeben im Auftrag der Vereinigung für Heimatkunde von B. Kleff.

 

Verlag und Druck

Schürmann & Klagge

1. Band

 

An diesem Heimatbuche arbeiteten mit:

 

Staatsanwaltschaftsrat Dr. G. Höfken

Bergassessor Dr. P. Kukuk, Privatdozent an der Universität Münster

Rektor B. Kleff, Leiter des Städtischen Museums

Redakteur A. Peddinghaus

Redakteur F. Pierenkämper

Lehrer J. Sternemann

Studienrat Dr. G. Wefelscheid

Gustav Singerhoff

Wilma Weierhorn

sämtlich in Bochum

 

Die Federzeichnungen besorgte Graphiker Ewald Forzig

die Scherenschnitte Frl. E. Marrè / die Baumphotographien Ingenieur Aug. Nihuus

den übrigen Buchschmuck Druckereileiter Erich Brockmann

sämtlich in Bochum

 

(Zitierhinweis 2012)

Bernhard Kleff, Hg.: Bochum. Ein Heimatbuch. Bochum 1925. Bochumer Heimatbuch Bd. 1