„Vüörm Hüöllertenstruk maut mä`n Haut awniemn.“

 

Kleff 

 

Wenn unsre Väter meinten, vor dem Holunderstrauch müsse man den Hut abnehmen, dann muß er ihnen gewiß etwas Besonderes gewesen sein. Zwar fängt man mit seinem Holze nicht viel an. Arm sein und „blouß `n Hüöllertenstock häm“ war dasselbe. Eine Freundschaft, die keine rechte Dauer verspricht, „es `ne Fröndschop as Hüöllertenholt“. Für unsre Altvordern stand fest, daß sich der unselige Judas an einem Holunderbaum – etwa an einem ähnlichen, wie er noch im Wäldchen hinter der Zeche Mansfeld in Querenburg steht – aufknüpfte. Der Strick riß nicht; aber der Ast brach ab, und das Unglück fiel auf die Erde. Wir wissen auch nicht, wie lange schon Knaben aus den mehrjährigen Holunderstöcken „Knall- und Splenterbössen“ machen; und die Stehauf-männchen aus Markholz mit dem Schuhnagel an einem Ende waren schon ein frohes Spielzeug, als man sie noch mit Poltergeisterchen verglich, die im nächtigen Dunkel die Treppen und Leitern herunterpurzelten und doch immer wieder unten auf den Stiefelchen ankamen. Aber so etwas nötigt doch nicht zum Hutabnehmen – wohl aber die geheimnisvolle Kraft, die in Holunder wohnt.

 

Die weithin leuchtenden weißen Blüten duften eigenartig und stark; sie schläfern ein, weshalb man jemand, der zur Unzeit Schlafbedürfnis verriet, wohl zurief; „Dä Hüöllerten bleiht wuoll“. Aber die Blüten gelten auch heute noch als ein ausgezeichnetes schweißtreibendes Mittel, nach alter Meinung besonders jene, so am Johannestage gepflückt werden. Die alten Kräuterbücher, in denen sich allerlei Unsinn, aber noch mehr alte Erfahrungs-weisheit niederschlug, rechneten Holunderblüten u. a. auch zu dem erweichenden Klistier – Species emolientes ad enema, das lautet anständiger, vor allem gelehrter – zum erweichenden Gurgelwasser usw. Früher waren auch die Beeren apothekenfähig, „offizinell“; sie galten für ruhrstillend und giftwidrig und harntreibend. Jedenfalls wurden sie vor Jahren auch hierzulande, wie heute z. B. im Paderborner Lande, zu einer Art Brotaufstrich wie Pflaumenmus verarbeitet. Wie hoch man sie einschätzte, zeigt die Sage, die schon 1705 in Michael Neanders Physica erzählt wird: Ein Fürst, der gelegentlich der Jagd vom Gefolge abirrte, kam zu einem Bauernhause. Da sah er einen greisen Mann sitzen, der weinte. Auf Befragen erklärte der, er sei soeben von seinem Vater hart geschlagen worden. Weshalb? Er habe seines Vaters Großvaters vom Stuhl weg anderswohin setzen sollen und ihn unversehens fallen lassen. Verwundert trat der Fürst näher, um solch uralte Leute selbst zu sehen. Auf seine Frage, von welchen Speisen sie lebten, erwiderten die Alten: von gesalzenem Brot, von Milch und Käse. Um aber zu solch hohen Jahren zu kommen, äßen sie alljährlich auf bestimmte Zeit – Holunderbeerenmus.

 

Früher hatte der Holunder noch mancherlei Heilkräfte abzugeben. Die zerquetschten jungen Blätter oder die letzten „Schüsse“ milderten, auf eine Entzündung gelegt, die „Hitze“. Die Mittelrinde der Wurzel diente als Abführmittel; aber „man soll sie mit Bescheidenheit gebrauchen“, wie die Kräuterbücher mahnen. Auch bei Wassersucht usw. wußte der Holunder Rat; und der kluge Vater Kneipp hielt auf verschiedenes Holunderheil gewiß nicht zu Unrecht große Stücke.

 

Das hat nichts zu tun mit jenem Bei- oder Aberglauben, der auch den Holunder reichlich umspann. Da wollte man z. B. gar das Fieber auf den Strauch übertragen. Ich erinnere mich noch einer alten Frau, die nicht zu weit von Bochum wohnte, die dazu die Formel wußte; sie begann:

 

„Twielm, ek böige di,

Fäiber, nu lot mi.“

 

Diese Frau gab auch stets den Rat, bei Halsweh, wenn das Schlucken beschwerlich sei, sollten die Kinder aus Holunderröhren trinken. Auch sonst galt der Strauch als tüchtig. Vor etwa 30 Jahren noch versicherte man auch an verschiedenen Orten des Kreises Bochum, wenn Metallgeschirre, z. B. kupferne Töpfe, mit Holunderblättern gerieben würden, nähmen sie kein Gift an. Ebenso wurden auch hölzerne „Mollen“, Butterschüsseln usw. tüchtig eingerieben: „dan kritt sä dän Wuorm nich“ (= dann bekommen sie keinen Holzwurm). Nun, auf alle Fälle hat tüchtiges Scheuern allen Segen der Sauberkeit. Wenn der Maulwurf es im Garten auf den Rabatten zu arg trieb, dann steckte man ihm in seine Gänge Holunderstöcke; „dat kann hä nich verdriägen“, angeblich des Geruches wegen nicht. Vor Jahren versicherte mir ein alter Kötter in Wiemelhausen, der neben seiner Dungstätte einen ansehnlichen Holunder stehen hatte, der Strauch gehöre einfach dahin; der Dünger darunter trocken nicht so aus und schade dem Acker gewiß nicht. Übrigens habe man früher, „in ollen Titen“, geglaubt, ein Holunder in der Nähe der Kuhstallstür schütze das Vieh von dem „Beseihn“ (= Besehen, Behexen); auch werde die Butter nicht so leicht „toll“. Wenn ein Holunder einmal unter dem gewohnten Grün eine Handvoll bleichsüchtige gelbe Blätter zeigte, dann deutete das gewiß an, daß auf dem Hofe bald einer sterben müsse. Daran glaubten viele gerade so fest, wie an die Fähigkeit gewisser Hunde, die einen Leichenzug zum voraus verbellen können sollten.

 

Derlei abergläubische Meinungen sind offenbar Reste aus jenen alten Zeiten, die im Holunder den der Holda, Holla, Holle geweihten Strauch sehen. Wem mal beikam, Holunder mit zwei l zu schreiben, dem wurde schleunigst ein deutsches Wörterbuch, etwa Weigand, empfohlen, in dem man nachlesen könne, daß man im Althochdeutschen „holuntar, holuntar“, im Mittelhochdeutschen „holunter“ geschrieben habe, also . . . . Und das habe „hohler Baum“ bedeutet und sei mit dem Ton auf der ersten Silbe gesprochen worden. In neuerer Zeit aber sagt man, Hollun sei schwache Zweitfallform von Holla, und „Holluntar“ bedeute Baum der Holla. In der engeren Heimat sind alte Volksgebräuche, die auf eine solche Auffassung hindeuten, wohl erloschen, nicht aber z. B. im Hildesheimschen, in der Schweiz usw. wo der Holunder namentlich bei Beerdigungen noch ein gewisse Rolle spielt. Übrigens gehörte schon nach Tacitus der Holunder zu den Hölzern, die bei Bestattungen gebraucht wurden. Frau Holle sei es gewesen, sagt alter Glaube, die dem Holunder seine Heilkräfte gegeben habe; sie habe den beschirmt, der unter ihm zur Ruhe lag; ihretwegen seien auch die Elfen bei Verfolgungen gerne in einen Holundersrauch geflohen. Und ob der Baum der Holle nur immer als Apotheke bei den Behausungen gestanden hat?

 

Heute ist man auch in unserer Gegend gegen den Holunder gleichgültiger geworden. Er stellt ja auch keine Ansprüche. Von seinen Heilkräften halten viele nicht mehr viel. Heilmittel müssen schon etwas kosten und zum wenigsten einen gelehrten Namen haben. Von dem, was alte Zeiten vom Holunder raunen, wissen manche kaum etwas; und wenn – dann lächeln sie überlegen, weil es modernen Aberglauben gibt. Der Holunder ist ihnen eben bloß ein ganz gewöhnlicher Strauch; allüberall, viel Grün, große weiße Blumen daran und auf den jungen Trieben manchmal särchterlich viele- Blattläuse.

  

Impressum

1925 Bochum Heimatbuch

 

Herausgegeben im Auftrag der Vereinigung für Heimatkunde von B. Kleff.

 

Verlag und Druck

Schürmann & Klagges

1. Band

 

An diesem Heimatbuche arbeiteten mit:

 

Staatsanwaltschaftsrat Dr. G. Höfken

Bergassessor Dr. P. Kukuk, Privatdozent an der Universität Münster

Rektor B. Kleff, Leiter des Städtischen Museums

Redakteur A. Peddinghaus

Redakteur F. Pierenkämper

Lehrer J. Sternemann

Studienrat Dr. G. Wefelscheid

Gustav Singerhoff

Wilma Weierhorn

sämtlich in Bochum

 

Die Federzeichnungen besorgte Graphiker Ewald Forzig

die Scherenschnitte Frl. E. Marrè / die Baumphotographien Ingenieur Aug. Nihuus

den übrigen Buchschmuck Druckereileiter Erich Brockmann

sämtlich in Bochum

 

(Zitierhinweis 2012)

Bernhard Kleff, Hg.: Bochum. Ein Heimatbuch. Bochum 1925. Bochumer Heimatbuch Bd. 1