Bochumer Gestalten.

 

A. Peddinghaus.

 

Man sagt, der Urwuchs sei ausgestorben. Er gedeihe nicht in der Großstadt mit ihren abgleichenden Einflüssen, ihrem Hasten und Treiben. Wie ein Talent sich nur in der Stille bildete, so ein rechter Urwuchs meist nur in behäbig – gemütlichen Verhältnissen. Auf dem Lande und in Kleinstädten findet man heute noch Menschen von ausgeprägter Eigenart; auch in der Mittelstadt trifft man sie noch an. Die Großstadt mag ihrer auch noch beherbergen, aber sie gehen im flutenden Menschenstrom unter, mögen nicht an die Oberfläche kommen.

 

Es sind erst etliche Jahrzehnte her, daß Bochum sich zur Großstadt entfaltete; noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts war es ein kleines Städtchen, in dem die Industrie sich eben regte, und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts behauptete sich in unserer Stadt der ureingesessene Typ, der Mensch hervorbrachte von scharfumrissener Eigenart. Den Bochumer „Originalen“ war zumeist ein gut Teil gutmütig-derben Humors zu eigen, oft auch ein ausgeprägtes Rechtsempfinden, das frei von juristischer Klügelei dem natürlichen Gefühl entsprach.

 

Unsere schnellebige Zeit läßt die Erinnerungen rasch verblassen. Es sei versucht, aus Erzähltem und Erlebtem die Gestalten einiger Bochumer Originale der Vergangenheit zu entreißen und sie hier vor Augen zu führen. Vielleicht kann der eine oder andere Leser den Federstrichzeichnungen noch bemerkenswerte Züge hinzufügen, die dann spätere Jahrgänge unseres Heimatbuches bringen.

 

*

 

Dr. Kortum, dessen 100 jährigen Todestag wir im Spätsommer 1924 durch eine würdige Gedenkfeier begangen haben, war selber ein Original. Das kleine Städtchen vor 100 Jahren mit seinen 1500 Seelen muß eine ganze Anzahl Originale beherbergt haben, die Jobsiade zählt ihrer eine Reihe auf. Von Kortum selbst an dieser Stelle zu erzählen, dürfte müßiges Unterfangen sein, da der Gedenktag Anlaß genug gab, Konterfei und Charakter dieses seltenen Mannes zu beleuchten.

 

Eine Bochumer Gestalt war der alte W e s t h o f f. Von ihm erzählten sich die alten „Pohlbörger“ allerlei Schnurren, wobei manches ihm zugedichtet ein mag, was anderen Personen eignet. Bei „Trappenwilm“ an der Beckstraße, welches Schankhaus jedem alten Bochumer bekannt war, hörte ich einst folgendes Stückchen vom alten Westhoff. An seinem Hause hatte er einmal eine neue Dachrinne machen lassen. Es war ein trockener Sommer, der Klempner trifft eines guten Tages zufällig den alten Westhoff. Mit scheinbarer Entrüstung stellt dieser den Meister mit dem Lötkolben zur Rede: „Dä Dakrenne, dä Git gemaket hät, es nix nutre“. – „Oho“, gibt der Klempner zurück, „dat wös dat estemol, dat mi souwat `n Kunde siett. Wo fählt et dran?“ – „Ät es, as ek fegge, dä Dakrenne es nix nutz, et kömmt käin Druopen rut.“ – „dat wäs doch“ prustet der Klempner heraus, holt sich eine Leiter, steigt aufs Dach und untersucht stundenlang die Dachrinne, klopft, hämmert, bläst hinein. Er kann keinen Mangel feststellen. Mit dem Stolz eines Meisters, der sein Fach versteht, klettert er zuletzt herunter und tritt zu Westhoff, der mit Schmunzeln des Meisters Mühe verfolgt hat. „Ät es alles in bestem Taustanne. Käine Dakrenne in ganz Baukum es biätter“. – „Un doch es et wohr, dat käin Druopen rutkömmt. Ät hät doch schon väir Wiäken nich mähr geriägnt“. Man kann sich das verblüffte Gesicht des angeschmierten Klempner denken.

 

*

 

Wer kannte nicht Alex von Oepen, den Schlächter aus der Altstadt? Ein fröhliches Haus, stets aufgelegt zu gutem Trank und Schmaus, noch mehr zu harmlosem Scherz. Gern verkehrte er beim alten Heinrich Märker an der Ferdinandstraße, einer biederen Westfalenseele. Es war im Herbst, als Märker eine fette Sau hatte schlachten lassen.

 

Alex und der Kleinrentner Wilhelm von Arnhelm, ein Stammgast bei Märker, kamen am anderen Tage, um die erste Mettwurst zu probieren. Heinrich blieb nichts anderes übrig, als eine Mettwurst aus der Küche zu holen, wo er gerade am Wurstmachen war. Sie schmeckte prächtig. Das brachte Alex auf den Gedanken, sich noch eine Mettwurst zu verschaffen. Sein Genosse Arnhelm mußte Heinrich an die Theke fesseln, indessen Alex in die Küche ging, um „im Auftrage von Herrn Märker“ noch eine Wurst zu holen. Er erhielt sie und teilte sie brüderlich mit Arnhelm, dann wurde ein kräftiger Trunk darauf gesetzt, und das gab neuen Appetit. Man wartete einen Augenblick ab, da Heinrich in die Nebenstube ging zum Abendbrot. Alex rief dann Frau Märker an die Theke, um sie dort zu fesseln, während Arnhelm in die Küche ging und von dem Mädchen sich „äin Wüorstken vöür Frau Märker“ geben ließ. Auch diese stattliche Mettwurst wurde verzehrt; ehe man hinter die Schliche kam, hatten die beiden Gäste den Heimweg durch die Finkengasse eingeschlagen.

 

*

 

Heinrich Märker, der „Vater des Gesangvereins Westfalia“, hatte sich einmal verkracht mit einigen Sängern Dördelmann; sie setzten es durch, daß der Verein sein Lokal nach Schäfer an der Ringstraße verlegte. Heinrich vermißte am Übungsabend seine Sänger sehr. Die zweite Woche ging`s ihm an die Nieren. Die dritte überwand er nicht, er ging zu Schäfer in die Übungsstunde und siehe da: Sänger und alter Vereinswirt fanden sich wieder, in der vierten Woche wurde wieder bei Märker geprobt. Henrich war glücklich, daß er „seine Jungens“ wieder hatte, nicht wegen des Bieres, das sie tranken, darauf kam es ihm nicht an, aber er mußte jugendfrohe Sänger um sich haben.

 

*

 

Treu hielt Henrich zu seinen Freunden. Als einst ein Stammgast wegen einer Kleinigkeit vor das Schöffengericht geladen wurde, ging Henrich Märker mit zum Justizgebäude am Wilhelmsplatz. Er hatte diese Hallen niemals betreten. Als er mit seinem Freunde in den Gerichtssaal eintreten wollte, bedeutete im der Gerichtsdiener (damals gab es noch keine „Oberjustizwachtmeister“), sein Platz sei im Zuhörerraum. Henrich kletterte über die Schranke und hörte aufmerksam der ersten Gerichtsverhandlung, der er in seinem langen Leben beiwohnte, zu. Angeklagter und Zeugen waren vernommen, der Amtsanwalt hatte seine Rede gehalten. Nun legte der Verteidiger los und zwar derart, daß Henrich ganz begeistert wurde und sich nicht enthalten konnte, mit lauter Stimmer zu rufen: „Bravo, bravo, dä Käl kürt guodd!“ Erstaunen ringsum. Der Rechtsanwalt hält inne, der Richter erhebt sich in voller Würde und ruft schneidend in den Saal hinein: „Wer hat da gerufen?“ Henrich tritt unerschrocken hervor: „Ek wäit ät.“ – „Wie heißen sie?“ – „Heinrich Märker, Ferdinandstraße.“ – „Märker, wegen Ungebühr vor Gericht nehme ich Sie in eine Ordnungsstrafe von 10 Mark“. Met Ink Härns es käin Ümgohn.“ Sprach`s und ging hinaus.

 

*

 

Die Stadtverordnetenwahlen verliefen in Bochum früher viel stürmischer. Die älteren Bochumer entsinnen sich noch der „Köhler-Wahlen“, als die säumigen Wähler in Dutzenden Kutschen zur Urne geschleppt wurden. Damals tauchten auch einige Sonderkandidaturen auf. Im Griesenbruch wohnte ein Schuhmachermeister Wulf, der sich selbst aufstellte, um dem Moltkeplatzviertel zum vermeintlichen Rechte zu verhelfen. In Flugblättern entwickelte er sein Programm, das darauf hinauslief, es sei eine Schande, den großen Moltkeplatz brach liegen zu lassen. Was haben die Anwohner von den Viehmärkten? Nichts als Gestank, den Mist läßt die Stadt für sich abfahren. Was haben sie von der Osterkirmes? Radau und Schlägereien, wenn die Stiepelaner in den Buden der „Rose von Jamine“, der „Perle von Stambul“ geneppt wurden. Man soll den Moltkerplatz zur Hälfte mit Kartoffeln und zur Hälfte mit Kaps bepflanzen, die Ernte steht nur den Bewohnern des Griesenbruchs zu. Zwar erhielt Wulf an die 60 Stimmen, kam aber „leider“ nicht ins Stadtparlament.

 

*

 

Das geriet auch Wilhelm Schleising nicht. Ein einarmiger Berginvalide, dessen Ehefrau das ehrsame Gewerbe eine Gesindevermieterin betrieb. Die Altstadt (das heißt: eine Anzahl Ulkbrüder) stellte ihn als Kandidaten auf. IN der alten Bockhalle (Kortum- und Brückstraßenecke) fand eine Versammlung statt. Wilhelm heilt eine Kandidatenrede. Sie schloß mit den Worten: „Alle für Alle – Einer für Einen – das sei unsere Patrone“. Jubelnder Beifall. Stürmische Hochs. Die Begeisterung ging so hoch, daß man eine Leiter holte und Wilmke darauf setzte. Acht starke Mannen hoben die Leiter auf ihre Schultern und torkelten damit, begleitet von johlender Menge, bis zum Spitzberg, allwo Wilmken residierte. Als der Zug sich dem Hause nahte, öffnete sich ein Fenster, ein nachtmützenumrahmtes Gesicht, in das Haarsträhnen hineinfielen, zeigte sich, und eine hohe Stimme kreischte: „Wachte mä, ek well die Supstümmel helpen.“ Flehend verlangte Wilmke von der Leiter und schlich ins Haus. Da mußte „Einer für Einen“ für alle in Empfang nehmen . . .  

 

Impressum

1925 Bochum Heimatbuch

 

Herausgegeben im Auftrag der Vereinigung für Heimatkunde von B. Kleff.

 

Verlag und Druck

Schürmann & Klagges

1. Band

 

An diesem Heimatbuche arbeiteten mit:

 

Staatsanwaltschaftsrat Dr. G. Höfken

Bergassessor Dr. P. Kukuk, Privatdozent an der Universität Münster

Rektor B. Kleff, Leiter des Städtischen Museums

Redakteur A. Peddinghaus

Redakteur F. Pierenkämper

Lehrer J. Sternemann

Studienrat Dr. G. Wefelscheid

Gustav Singerhoff

Wilma Weierhorn

sämtlich in Bochum

 

Die Federzeichnungen besorgte Graphiker Ewald Forzig

die Scherenschnitte Frl. E. Marrè / die Baumphotographien Ingenieur Aug. Nihuus

den übrigen Buchschmuck Druckereileiter Erich Brockmann

sämtlich in Bochum

 

(Zitierhinweis 2012)

Bernhard Kleff, Hg.: Bochum. Ein Heimatbuch. Bochum 1925. Bochumer Heimatbuch Bd. 1